27 Stunden auf der Ostsee – So ist es mit der Fähre von Finnland nach Deutschland zu fahren
Ich stehe am Bug der 12-geschossigen Fähre, die mich von Helsinki nach Travemünde bringen soll, und recke meinen Kopf in die Höhe. Mir wird erst jetzt so richtig bewusst, dass ich noch nie mit einem Schiff gefahren bin, das größer war als ein kleiner Ausflugsdampfer. Mit einem selbstgebauten Floss durch Brandenburger Gewässer, mit der Fähre nach Helgoland, mit dem Katamaran vor der französischen Küste – ich bin tatsächlich gern auf dem Wasser unterwegs, hab aber noch nie in Betracht gezogen, ein Schiff als echtes Transportmittel, das mich von einem Ort zum anderen bringt, zu nutzen. Ich will weniger fliegen, meinen erschreckend hohen CO2-Fußabdruck des letzten Jahres senken, und als ich meine Reise nach Finnland und zurück plane, kommt mir die Idee, eine Teilstrecke mit der Fähre zurückzulegen – von Helsinki über die Ostsee bis nach Deutschland, das sollte doch möglich sein. Sofort stellt sich bei mir aber ein ungutes Gefühl ein. Bilder an Kreuzfahrtschiffe, die in Venedig kleine Touristenboote rammen, und Nachrichten von Containerschiffen, die im Ozean ihren ölverschmierten Tank ausspülen, kommen mir in den Sinn. Ist eine Fahrt mit der Fähre so viel ökologischer? Ich will es herausfinden!
Mit der Fähre von Helsinki nach Travemünde in 27 Stunden
Meine Internetsuche nach Fährverbindungen zwischen Helsinki und Deutschland beginnt mit einem kleinen Schock: Die Fahrt dauert 27 Stunden. Ich hatte erwartet, dass die Reise länger dauern würde. Aber doch nicht so lange! Ich checke schnell die Flugverbindungen zwischen Berlin und Helsinki: 2 Stunden. Ich überlege kurz, ob ich mein Vorhaben wieder verwerfe, rufe mir aber ins Gedächtnis, dass ja auch die Anreise an sich schon Teil des Abenteuers ist. Schlussendlich entscheide ich mich für die Fährfahrt auf der Rückreise: Los geht's Freitag, 17 Uhr, in Helsinki. Geplante Ankunft in Travemünde: Samstag, 21.30 Uhr. Das finnische Unternehmen Finnlines verbindet die beiden Städte mehrmals wöchentlich, dazu gibt es eine Verbindung von Travemünde ins schwedische Malmö.
Die Schiffe von Finnlines kreuzen schon seit 1947 über die Ostsee und den Atlantik, bereits seit 1963 gibt es die Verbindungen von Helsinki nach Travemünde und zurück. Die Fähren transportieren vor allem im Roll-on-Roll-off-Verfahren Güter. Auf vielen Strecken zwischen Finnland, Schweden und Deutschland bietet das Unternehmen zusätzlich einen kombinierten Fracht- und Passagierservice an: Während im Bauch der Fähre Container mit diversen Gütern transportiert werden, können bis zu 550 Personen zusätzlich mitfahren; viele davon reisen mit dem Auto an, das zusätzlich in der Fähre Platz findet.
"Ich fühle mich sofort wohl"
Am Abfahrtstag bin ich schon nach dem Aufwachen aufgeregt. Ich fühle mich ein bisschen so, als würde ich auf eine große Reise gehen – was vielleicht auch daran liegt, dass ich vom Hauptbahnhof in Helsinki noch eine Stunde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bis zum Fährterminal fahren muss, das im Helsinkier Stadtteil Vuosaari liegt. Alle Personen, die nicht mit dem Auto anreisen, müssen hier einchecken und werden dann mit einem Transporter direkt zur Fähre gefahren. Ich bin ein bisschen froh, dass ich mir nochmal die FAQs durchgelesen habe, denn der Check-In schließt zwei Stunden vor Abfahrt, also 15 Uhr. Mein ursprünglicher Plan sah vor, 14 Uhr in Helsinki loszufahren, und wahrscheinlich hätte ich so die Fahrt grandios verpasst.
Jetzt stehe ich also schon zwei Stunden vor Abfahrt vor der großen Fähre und nehme den Aufzug der Brücke am Dock, um in die 7. Etage zu gelangen. Hier befindet sich der Empfang und meine Kabine. Ich hatte mich bei der Buchung für eine Außenkabine mit zwei Betten (female shared cabin) entschieden, sozusagen ein Hostelzimmer für Frauen, wobei mir nicht ganz klar, was mich überhaupt auf der Fähre erwartete. Wahrscheinlich hatte ich mir eine etwas heruntergekommene Kabine vorgestellt, ein dunkles Loch, in dem ich so wenig Zeit wie möglich verbringen wollte – zumal ich mir das Zimmer ja mit einer anderen Person teilen müsste. Als ich die Tür mit meiner Zimmerkarte öffne, macht mein Herz aber einen kleinen Hüpfer vor Freude: Das Zimmer ist hell, hat ein riesiges Fenster nach Osten, ein Satelliten-Fernseher, ein sauberes Bad mit Dusche, WC und Handtüchern – und nur ein bezogenes Bett. Dazu sorgt die Holzverkleidung der Möbel und der rote Couchbezug für eine angenehme Atmosphäre. Ich fühle mich sofort wohl – wahrscheinlich auch weil ich weiß, dass ich das Zimmer für mich allein haben werde.
Reise ich noch, oder mache ich schon Urlaub?
27 Stunden verbringe ich nun also auf dieser schwimmenden Stadt. Denn wie eine Stadt kommt mir die Fähre vor. Die verschiedenen Zimmer für die 550 Passagiere, die zusätzlich auf der Fähre mitfahren können, befinden sich auf den Etagen 7, 8 und 9. Die Kabinen der 40-köpfigen Crew sind auf Etage 10. Darüber spielt sich das komplette Sozialleben ab. Ich hatte mir für die Fahrt viel vorgenommen: Zwei Artikel wollte ich schreiben, Themen recherchieren, Fotos bearbeiten. Aber als ich zum ersten Mal die 11. Etage betrete, ist mein Vorhaben schnell vergessen und andere Pläne formen sich in meinem Kopf:
Erstmal im Café eine finnische kaffepaussi mit Kaffee und Zimtschnecke machen, bisschen Shoppen gehen im Store, dann Abendessen im Restaurant und später einen Drink an der Bar, durch das Satelittenfernseh-Programm zappen und zum sanften Schaukeln des Meeres einschlafen. Am nächsten Tag zum Sonnenaufgang aufwachen, dann Frühsport im Fitnessraum mit Blick auf die Ostsee, anschließend ein Saunagang und runterkommen im Jacuzzi. Danach frühstücken im Restaurant, vielleicht ein bisschen lesen oder arbeiten, mal sehen, Mittag essen, einen iltapäiväkahvi trinken – wie der Nachmittagskaffee auf Finnisch heißt– und, bevor wir in den Hafen von Travemünde einlaufen, nochmal zu Abend essen. Gedacht, getan.
Die 27 Stunden sind nicht ein lästiger Teil der Rückreise, sondern ein kleines Mikroabenteuer – wenn man so will.
Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie überwältigend ein Kreuzfahrtschiff sein muss und kann jetzt verstehen, dass man irgendwann keine Lust mehr hat, das Schiff zu verlassen – es befindet sich ja alles an einem Ort. Nur, dass ich mir die Fähre spartanischer vorgestellt hatte und nicht so "luxuriös". Jetzt wird mir erst richtig bewusst, dass die Fahrt an sich schon wie Urlaub ist. Die 27 Stunden sind nicht ein lästiger Teil der Rückreise, sondern ein kleines Mikroabenteuer – wenn man so will.
Am zweiten Tag gehe ich zum Empfang, um meinem mir etwas peinlichen Unglauben über die Ausstattung Ausdruck zu verleihen. Aber der Leiter der Serviceabteilung beruhigt mich: Tatsächlich wurden die Passagierbereiche erst vor ein paar Jahren runderneuert mit dem Ziel, wieder mehr Urlauber für die Reise mit einer Fähre zu begeistern. Denn die Passagierzahlen sind in den letzten Jahren zurückgegangen, was natürlich an den horrend geringen Preisen für Flugreisen und der wesentlich kürzere Anreisezeit liegt. Zum Vergleich: Für den Flug Helsinki nach Berlin hätte ich 50 bis 100 Euro bezahlt. Für die Fähre gehen 230 Euro drauf. Dazu kommen 70 Euro für das Paket aus zweimal Abendessen und jeweils einmal Frühstück und Mittag (was ich für vier Mahlzeiten im Übrigen völlig okay finde) sowie 30 Euro für 27 Stunden WLAN-Nutzung (finde ich weniger okay). Außerdem komme ich Samstagabend in Travemünde an, den letzten Zug nach Berlin über Hamburg verpasse ich um eine Stunde, sodass ich noch eine Nacht in Travemünde (oder im 20 Minuten entfernten Lübeck) verbringen muss.
Das Schöne an einer 27-stündigen Fährfahrt ist, dass man auf so einer langen Reise wieder langen Reise wieder ein Gefühl für Entfernungen bekommt darüber bewusst wird, was für ein Luxus Fliegen eigentlich ist.
Das muss man wollen – und sich auch leisten können. Am einfachsten ist beides, wenn man, wie gesagt, diese Zeit schon als Urlaub begreift. "Der Weg ist das Ziel", man kennt den Spruch, aber er trifft eben umso mehr zu, je weniger Zeit man im Flugzeug verbringt und desto länger man mit anderen Verkehrsmitteln unterwegs ist. Das Schöne an einer 27-stündigen Fährfahrt ist eben auch, dass man auf so einer langen Reise wieder ein Gefühl für Entfernungen bekommt und sich darüber bewusst wird, was für ein Luxus Fliegen eigentlich ist.
Wie nachhaltig ist eine Fahrt mit der Fähre?
Apropos Fliegen: Natürlich will ich auch wissen, wieviel ökologischer so eine Fährfahrt nun eigentlich im Vergleich zur Anreise mit dem Flugzeug ist. Für irgendwas muss das WLAN ja gut sein, also beginne ich zu recherchieren – und finde nichts. Alle CO2-Rechner berücksichtigen ausschließlich die Anreise mit dem Flugzeug, der Bahn, dem Auto, dem Rad, zu Fuß und in seltenen Ausnahmen noch mit dem Kreuzfahrtschiff. Fähre? Fehlanzeige. Das zeigt eigentlich schon das Dilemma der Fährfahrt: Sie scheint zu unsexy, als dass sie eine Erwähnung Wert wäre. Vielleicht auch, weil die Berechnung des CO2-Ausstoßes etwas komplizierter ist.
Die Umweltbelastung ergibt sich aus der Schiffsgröße, der Antriebsleistung (also der Geschwindigkeit, mit der das Schiff unterwegs ist) sowie der Zahl an Passagieren. Bei den Finnlines-Fähren fällt positiv ins Gewicht, dass sie hauptsächlich Güter transportieren. Die Fähre fährt also nicht nur, weil die Passagiere Urlaub machen wollen (im Gegensatz zu einem Flugzeug, dass ja ausschließlich Personen transportiert), sondern es hat aufgrund der Größe die Möglichkeit, zusätzlich Personen mitzunehmen. Dadurch verringert sich der CO2-Fußabdruck eines jeden erheblich.
Eine Fahrt, 60-fache Wirkung
Den einzigen sinnvollen Vergleichswert im Internet finde ich in einem Artikel auf der österreichischen Website Das Lamm. Autor Stefan Breit hat für seine Fährfahrt vom marokkanischen Tanger ins spanische Savona ausgerechnet, dass für eine Distanz von 2000 Kilometern gerade mal 10.3kg CO2 pro Person ausgestoßen würden. Die Strecke von Helsinki nach Travemünde beträgt etwas über 1100 Kilometer und geht statt drei Tagen nur knapp einen. Das ergäbe Pi mal Daumen weniger als 5kg CO2 pro Person für meine Fahrt – wahrscheinlich sogar noch weniger. Zum Vergleich: Für den Flug von Helsinki nach Berlin in der Economy Class hätte mein CO2-Fußabdruck 299kg betragen!
Die Website des Forschungs-Informations-Systems klärt mich dann auch auf: "Ein Vergleich der verschiedenen Verkehrsmittel anhand des ausgestoßenen CO2 pro Tonnenkilometer ergibt folglich für den Verkehrsträger Schiff den niedrigsten Wert." Ich freue mich zunächst, lese aber auch, dass der Schiffstransport "insbesondere bei dem Ausstoß von Stickoxiden sowie Feinstaub schlechter abschneidet als Straßen- und Schienentransport". Finnlines hat sich mit seiner Flotte einem Nachhaltigkeitsprogramm verschrieben, mit dem der Ausstoß von Treibhausgasen bis 2050 um die Hälfte reduziert werden soll. Und dass Tanker im Meer ausgespült werden, gehöre lange der Vergangenheit, wird mir vom Leitenden Ingenieur der Fähre versichert.
Geht doch! Nach 27 Stunden komme ich mit einem besseren Gewissen als beim Hinflug in Deutschland an. Die Zeit verging zwar schnell, aber festen Boden unter den Füßen zu spüren, fühlt sich gar nicht so schlecht an, auch wenn ich immer noch das Gefühl habe, hin und her zu wanken. Und sollte es mich irgendwann mal nach Schweden oder Norwegen verschlagen, werde ich definitiv wieder die Fähre in Betracht ziehen.