Anstatt in den Urlaub, solltet ihr mal in den nächstgelegenen Wald fahren
Wenn es uns zu viel wird im hektischen Alltag und wir mal wieder neue Gesichter und neue Orte sehen wollen, dann fahren in den Urlaub. Wir erhoffen uns Entspannung und Ruhe, aber allein das Planen und die Anreise schaffen schon wieder mehr Unruhe und Anspannung. Wie wär's also mal mit einer Reise in den nächstgelegenen Wald? Das Rascheln der Baumkronen im Wind, der sanfte Geruch von Erde und Pilzen und die bunten Farben des Laubs beruhigen uns, das ist sogar wissenschaftlich erwiesen. Ein neues Buch huldigt jetzt dem Wald im Allgemeinen und dem Pilze sammeln im Speziellen. In "Into the woods – Pilze suchen und Glück finden" erzählen Menschen von ihren Erfahrungen mit dem Wald und von ihren Lieblingspilzen. Dazu gibt es eine Anleitung zum Pilze sammeln und bestimmen sowie leckere Rezepte. Das Buch von Moritz Schmid ist wunderschön und für jeden gestressten Großstädter und Outdoor-Liebhaber das perfekte nächste Geschenk. Wir dürfen hier einen Auszug aus dem Buch veröffentlichen.
Auszug aus dem Buch "Into the woods – Pilze suchen und Glück finden"
Meine Geschichte mit dem Wald beginnt – wie die meisten guten Geschichten – mit einem besten Freund und einem Abenteuer. Als kleine Jungen spielten Lars und ich trotz des elterlichen Verbots am liebsten in einem nahe gelegenen Wald, der damals als Truppenübungsplatz der Bundeswehr genutzt wurde. Wir trugen Hinterlassenschaften der Soldaten zusammen und bauten Höhlen in alten Schützengräben. Hier konnten wir unserer Fantasie freien Lauf lassen, entdecken, toben, bauen und spielen – es war das pure Abenteuer. Mit sieben Jahren schloss ich mich den Pfadfindern an, lernte Pflanzen zu bestimmen, Spuren zu lesen, Feuer zu machen und Lager zu bauen. Die Exkursionen waren das Größte für mich. Einen prägenden Sommer verbrachten wir in Schweden, wo wir tagelang durch die Wälder streiften und in der Natur lebten. Am Abend genossen wir am Lagerfeuer die Pilze und Beeren, die wir im Dickicht von Småland fanden.
Mit der Pubertät rückten der Wald und die Naturverbundenheit in den Hintergrund. Wenn ich als Jugendlicher in einer selbst gebauten Höhle aus Stöcken und Sträuchern lag, dann nur um das Sicherheitspersonal der Deutschen Bahn auszukundschaften und zu eruieren, wann man in Ruhe einen Zug mit einem Graffiti bemalen könnte. In dieser Zeit ging es um Turntables, den Wu-Tang Clan, die Fugees, Busta Rhymes, die derbsten Beats und die coolsten Styles. Ganz verloren habe ich meine Verbindung zum Wald aber nie. Als ich nach der Schule nicht so recht wusste, wohin mit mir, nahm ich mir Zeit für mich und suchte auf langen Spaziergängen im Wald nach Antworten auf die großen Fragen eines jungen Erwachsenen. Ich nutzte den Wald als künstlerischen Spielplatz und probierte allerhand skurrile Kunstexperimente aus: Umgefallene Bäume malte ich pink oder neongelb an, zeichnete Muster auf Baumstämme, deren Rinde abgeplatzt war. Der Wald strahlte für mich die große Ruhe und Beständigkeit aus, die mir half, meine Identität als Mensch und Künstler zu finden. Die stattlichen Bäume gaben mir Halt, als meine geliebte Großmutter starb oder als meine erste große Liebe in die Brüche ging. Der Wald war immer da, gab mir Kraft und half mir, meine Sorgen zu verarbeiten. Ich musste mich nur in ein Abteil der Linie S21 in Hamburg setzen und bis zur Endstation Aumühle fahren. Da, wo schon Fürst von Bismarck seine Runden im Sachsenwald gedreht hatte, war fortan mein Therapeut zu Hause: der Wald.
War ich mit Anfang 20 im Wald noch auf der Suche nach mir selbst, suche ich heute in den Wäldern am liebsten Pilze. Zu dieser Leidenschaft bin ich eher zufällig gekommen, als ich auf meinen ausgedehnten Spaziergängen neben tollen Fundstücken wie Schädeln, Knochen, alten Baumwurzeln und unbekannten Pflanzen auch zahlreiche Pilzarten entdeckte. Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter mir als Kind beigebracht hatte, dass man jene Pilze, die einen Schwamm haben, größtenteils essen kann, und ich begann, mich damit näher auseinanderzusetzen. Umgehend besorgte ich ein Pilzbestimmungsbuch und ging fortan mit einem Korb in den Wald, um meine Fundstücke nach Hause zu tragen. Meiner Sammlernatur entsprechend füllte sich meine Wohnung zunehmend mit allerlei Naturmaterialien. Mit meiner Tochter bastelte ich Mobiles aus Stöcken, dekorierte Regale mit Moosen und Steinen und integrierte so ein Stück Natur in mein tägliches Umfeld. Wenn ich im Herbst mit einer fetten Pilzbeute zurück in die Stadt fuhr, lud ich kurzerhand Nachbarn und Freunde zu spontanen Dinnerpartys ein.
Das Pilzesammeln gehört seit mehr als 15 Jahren zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, und ich kann es jedes Jahr kaum erwarten, dass die Pilzhochsaison im Spätsommer startet. Dann hält mich nichts mehr zu Hause und ich verbringe jede freie Minute im Wald. Mit keinem Ort verbinde ich so viele intensive Gefühle: Zum einen empfinde ich eine tiefe Verbundenheit und Erdung, zum anderen löst er in mir manchmal immer noch eine Urangst aus. Ganz besonders stark gespürt habe ich diese Angst, als ich mich vor einigen Jahren in einem Wald nahe Hamburg heillos verlaufen hatte. Im totalen Pilzrausch ging ich immer weiter ins Dickicht ein, bis ich realisierte, dass ich die Orientierung verloren hatte. Es wurde langsam dunkel und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, in welcher Richtung ein Ausweg lag. Smartphones gab es damals noch nicht.
Das Moos schluckte jedes Geräusch, die Stadt und die befahrenen Straßen waren weit entfernt. Planlos lief ich weiter durch das Unterholz. Mit zunehmender Dunkelheit packte mich das Schaudern, und mir wurde mulmig zumute. Meine Instinkte waren auf Alarmbereitschaft gestellt, mein Körper war voller Adrenalin. Bei jedem Knacken im Unterholz zuckte ich zusammen. Ein Wildschwein? Plötzlich sah ich aus der Dunkelheit eine Gestalt auf mich zulaufen. Angst überkam mich, bis ich realisierte, dass das bedrohlich wirkende Etwas lediglich ein Jogger auf dem Trimm-dich-Pfad war, der nach Feierabend eine Runde durch den Wald drehte. Nur zehn Meter von mir entfernt lag ein Trampelpfad, und der nette Jogger zeigte mir den Weg aus dem Wald heraus. Keine zehn Minuten später stand ich auf einer geteerten Straße und machte mich verschwitzt auf den Weg nach Hause. Bis heute beschäftigt mich diese Geschichte, und sie zeigt mir, wie das herrliche Sammelfieber zu einem regelrechten Rausch werden kann, bei dem man Zeit und Raum vergisst und wieder mit seinen innersten Emotionen und Ängsten in Verbindung steht.
Meine Liebe zum Pilzesammeln ist stetig gewachsen und so auch mein Wissen über diese Wunderwerke der Natur. Mithilfe von Pilz-bestimmungsbüchern, dem Internet und Exkursionen mit Experten habe ich mir ein Wissen angeeignet, das ich gerne an Freunde weitergebe. Und so gibt es für mich nichts Schöneres, als mit meiner Frau, Freunden oder Familie durch die Wälder zu streifen. Wir schlendern dann gemeinsam stundenlang durch die Forste und freuen uns zusammen über jeden einzelnen Pilz. Dabei können wir abschalten und trotzdem etwas erleben. Am Abend wird die Beute gemeinsam gekocht und damit ein perfekter Tag gekrönt.
Ich glaube fest daran, dass es uns Menschen guttut, Zeit im Wald zu verbringen, und dass wir trotz allem technischen Fortschritt auf ganz natürliche Weise mit der Natur verbunden sind. In unserem hektischen Alltag vergessen wir diese Erdung nur leider allzu leicht. Deshalb möchte ich mit diesem Buch dazu einladen, den Wald (wieder) für sich zu entdecken: seine Ruhe, seine positiven Auswirkungen auf uns und seine zahlreichen Schätze.
Into the Woods – let’s go!
"Into the woods – Pilze suchen und Glück finden" ist am 27. Mai 2019 bei Prestel erschienen.