85.500 Kilometer durch die Welt – Christine Thürmer über das Glück des Weitwanderns
Christine Thürmer erobert die Welt – und zwar Schritt für Schritt. Denn sie ist hauptsächlich zu Fuß unterwegs, wenn sie die unterschiedlichsten Winkel Amerikas, Australiens, Asiens und natürlich Europas besucht. Dabei hat sie bereits unglaubliche 49.000 Kilometer zurückgelegt und sich somit den inoffiziellen Titel der meistgewanderten Frau der Welt gesichert. Doch damit nicht genug, denn hin und wieder sitzt Christine auch mal im Sattel und radelt von Polen über das Baltikum bis nach Finnland oder paddelt sich quer durch Schweden. Christine hat mir von ihren Wandererlebnissen und besonderen Begegnungen am Wegesrand erzählt und mir ihre Lieblingstrails in Europa verraten. Außerdem haben wir uns über die Einfachheit des Weitwanderns und "die Senkung der Glücksschwelle" unterhalten.
Wenn du dich inspiriert fühlst, deinen eigenen Rucksack zu packen und loszulaufen, vorher aber gerne noch mehr Wandertipps von der Langstreckenwanderin Christine abgreifen willst, kannst du dich freuen. Denn in ihrem neuen Buch Weite Wege Wandern teilt sie ihr Expertenwissen aus über 12 Jahren auf eigenen Füßen.
Christine, warum läufst du so viele Kilometer?
Für mich war es keine Weg-von-, sondern eine Hin-zu-Motivation. Ich wollte nicht aus einer unbefriedigenden Lebenssituation fliehen, denn eigentlich war ich ausgesprochen zufrieden. Ich war erfolgreich und habe sehr gut verdient. Wie man Karriere macht, wusste ich aber schon, also wollte ich etwas Neues ausprobieren.
Viele Menschen denken sich, dass sie jetzt erst einmal noch ein paar Jahre arbeiten, um dann irgendwann später ihre Träume zu verwirklichen. Doch durch das Schicksal eines guten Freundes ist mir bewusst geworden, dass die wichtigste Ressource im Leben nicht Geld, sondern Lebenszeit ist. Denn anders als Geld ist Lebenszeit weder planbar, noch vermehrbar. Niemand kann dir garantieren, dass du in fünf oder zehn Jahren noch das tun kannst, was du gerne tun würdest, also wollte ich direkt damit anfangen, mein Leben zu genießen.
Und seither wanderst du durch die Welt?
Genau, ich sehe mich selbst weniger als Reisende, sondern als Wanderin. Unterwegs entdecke ich natürlich auch einiges, aber meine persönliche Motivation ist die Bewegung in der Natur, ob ich nun zu Fuß, auf dem Rad oder mit dem Paddelboot unterwegs bin. Wichtig ist mir dabei, dass ich das aus eigener Kraft mache, also nicht mit dem Auto oder dem Bus fahre.
Warum ist dir das so wichtig?
Weil es meinen Lifestyle positiv verändert. Das lange Wandern führt zu einem sehr reduzierten Lebensstil, weil du ja alles tragen musst. Der große Luxus als Langstreckenwanderin ist eben nicht, möglichst viele Dinge mitzunehmen, sondern möglichst wenig tragen zu müssen. Das heißt ich reduziere mich unterwegs auf die absoluten Grundbedürfnisse. Wenn du immer auf diesem Minimum lebst – ich habe zum Beispiel nur fünf Kilogramm Ausrüstung dabei – dann wird jedes kleine Bisschen, das darüber hinaus geht, zum absoluten Luxus und löst wahre Glücksgefühle aus. Du bekommst plötzlich eine ganz andere Wertschätzung für Dinge, die du sonst vielleicht als total normal ansiehst.
Der große Luxus als Langstreckenwanderin ist eben nicht, möglichst viele Dinge mitzunehmen, sondern möglichst wenig tragen zu müssen.Christine Thürmer
Welche Auswirkungen hat dieses reduzierte Leben?
Auf meinen Wanderungen schlafe ich zum Beispiel immer auf einer 5cm dicken Isomatte irgendwo im Wald. Waschen kann ich mich nur dann, wenn ich an einem Bach oder einem anderem klaren Gewässer vorbeikomme. Wenn ich dann aber zurück in eine Stadt komme und in ein Hotel einchecke, in dem ein Bett mit einer weichen Matratze und eine Dusche mit fließend warmem und kaltem Wasser auf mich wartet, dann ist das für mich das Größte und führt zu einer enormen Wertschätzung für ganz einfache Dinge, die man sonst für selbstverständlich hält. Für mich ist das quasi eine Senkung der Glücksschwelle.
Was meinst du damit?
Wenn ich einfache Dinge wertschätze, erhöhen sich dadurch natürlich auch die Glücksmomente. Auf meiner allerersten Wanderung bin ich von Mexiko nach Kanada gelaufen und war im Hochgebirge unterwegs. Das waren neun Tage ohne Proviantnachschub. Am letzten Wandertag habe ich von zwei Tageswanderern einen Schokoriegel geschenkt bekommen. Das war ein ganz einfacher Riegel für 50 Cent, aber als ich da reingebissen habe, habe ich eine solche Glückswelle gespürt, das war unglaublich.
Wenn du immer auf diesem Minimum lebst – ich habe zum Beispiel nur fünf Kilogramm Ausrüstung dabei – dann wird jedes kleine Bisschen, das darüber hinaus geht, zum absoluten Luxus und löst wahre Glücksgefühle aus. Du bekommst plötzlich eine ganz andere Wertschätzung für Dinge, die du sonst vielleicht als total normal ansiehst.Christine Thürmer
Was hat diese Erfahrung in dir ausgelöst?
Ich hatte daraufhin zwei ganz wichtige Erkenntnisse. Erstens, Geld relativiert sich beim Weitwandern. Wenn die beiden mir 100 Dollar geschenkt hätten, hätte mich das bei Weitem nicht so glücklich gemacht wie diese billige Schokolade. Und zweitens, Glücksgefühle sind für die Meisten eher indirekt und unkörperlich. Früher habe ich mich zum Beispiel über eine Gehaltserhöhung gefreut. Doch dieses Glück ist abstrakt, denn man muss erst einmal warten, bis das Geld auf dem Konto ist, damit man dann losgehen kann, um sich irgendetwas davon zu kaufen, was einen glücklich macht. Wenn ich aber auf dem Trail stehe, Hunger habe, den Schokoriegel aufreiße und reinbeiße, ist das eine direkte körperliche Erfüllung. Und das ist eine ganz andere Intensität von Glück, als ich sie früher kannte.
Wie bereite ich mich am besten auf eine Langstreckenwanderung vor?
Wandern kann jeder! Wenn du dich zum Beispiel nicht fit genug fühlst, dann gehst du deine Wanderroute eben langsam an – fit wirst du unterwegs. Der entscheidende Faktor, ob du eine Langstreckenwanderung schaffst, ist nicht dein Fitnesslevel, sondern dein Ausrüstungsgewicht. Jeder wird am Anfang das eine oder andere körperliche Problem haben, denn eine Strecke solchen Ausmaßes ist einfach ungewohnt für den Körper. Wichtig ist, dass du dann aber keine enorme zusätzliche Last noch auf deinem Rücken oder unbequeme Schuhe an deinen Füßen trägst. Bevor es losgeht, solltest du dich natürlich noch fragen, was du eigentlich willst und warum du diese Wanderung angehst.
Du bist zweimal durch ganz Europa gewandert, was ist dein persönlicher Tipp?
Mein Tipp ist es, in Ländern zu wandern, in die sonst keiner hin will. Denn dann bist du dort wirklich alleine und kannst noch echte Abenteuer erleben. Deswegen empfehle ich Wanderungen in Osteuropa. Denn dort ist der Wandertourismus erst im Kommen und du kannst wirklich noch Entdecker*in sein. Gerade Tschechien und Ungarn zum Beispiel haben eine Jahrzehnte lange Wandertradition. Oder auch in Bulgarien beispielsweise gibt es die besten OSM-Karten und Outdoorläden. Historisch gesehen, waren diese Länder ja quasi gezwungen, im eigenen Land zu bleiben und so hat sich eine wahnsinnig aktive Wander-Community entwickelt.
Wandern kann jeder! Wenn du dich zum Beispiel nicht fit genug fühlst, dann gehst du deine Wanderroute eben langsam an – fit wirst du unterwegs.Christine Thürmer
Gibt es eine Route, die du besonders empfehlen kannst?
Im Norden von Ungarn gibt es einen der ältesten Fernwanderwege Europas, genannt Kektura, der dort wirklich Kult ist. Es ist wunderschön dort, denn die ungarischen Mittelgebirge sind extrem waldreich. Auf der Wanderung kommst du an unzähligen Thermalbädern und am einzig aktiven Thermalsee der Welt vorbei, der das ganze Jahr über eine Durchschnittstemperatur von 25 Grad hat. Der Weg führt auch an Budapest vorbei und du kannst nach Ankunft in der ungarischen Hauptstadt jeden Ort am Wegesrand mit den Öffentlichen relativ schnell erreichen. Und was viele auch nicht wissen, ist, dass auch in Ungarn – abgesehen von den Nationalparks natürlich – wildcampen erlaubt ist. Das Tolle ist aber, dass es dort noch richtigen "local roots"-Tourismus gibt. Außer in den großen Städten findest du statt großen Hotelketten überall private Ferienwohnung im Land. Das heißt, das Geld, dass du ausgibst, geht tatsächlich noch an die lokale Bevölkerung.
Wie sieht dein Tag aus, wenn du unterwegs bist?
Mein Tag beginnt unheimlich früh. Ich stehe eine Stunde vor Sonnenaufgang auf und packe zusammen, sodass ich wirklich mit den ersten Sonnenstrahlen loslaufen kann. Denn mein Tag endet auch wieder mit dem Sonnenuntergang. Ich laufe zwar relativ große Distanzen, ungefähr 30 bis 35 Kilometer, aber ich habe dafür dann ja auch bis zu 16 Stunden Zeit. Ich will überhaupt nicht schnell unterwegs sein und lege auch unterwegs häufig Pausen ein.
Meine Mittagspause mache ich zum Beispiel am liebsten an einer Kirche, denn dort finde ich meistens frisches Wasser und eine Steckdose. Denn ich höre unheimlich viele Hörbücher oder telefoniere auch sehr gerne. Das ist für viele erst einmal befremdlich. Meistens heißt es dann "aber du musst doch auf die Naturgeräusche hören", aber ich bin ja 24/7 auf den Beinen und wenn du stundenlang im Regen eine einsame Landstraße entlangläufst, freust du dich wirklich über jeden Podcast, den du hören kannst. Dann plane ich den Tag so, dass ich gegen Abend eine Möglichkeit zum Wildzelten erreiche – meist im Wald, da dieser mir Sicht- und Wetterschutz bietet. Und das wars im Prinzip schon, nicht um sonst heißt mein erstes Buch "Laufen. Essen. Schlafen." – denn mehr mache ich unterwegs gar nicht.
Vielen Dank Christine!
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