Daten war nie so romantisch wie 2021 – Ein Single aus Berlin erzählt

© Patrizia Barbera, Bearbeitung Reisevergnügen

von Patrizia Barbera

Take me out tonight
Where there’s music and there’s people
And they are young and alive

Die Sehnsucht ist ein Smiths-Song. Immer und immer wieder säuselt er leise durchs stickige Zimmer. Die Heizung gluckst, doch er friert. Unschlüssig liegt er seit gut einer halben Stunde (oder ist es schon eine Stunde?) auf dem Rücken und studiert den Tanz der Staubkörnchen. Schön sieht das aus. Viele kleine Punkte im Raum. Sie bewegen sich durcheinander. Aneinander vorbei. Ohne Richtung, ohne Plan, ohne Angst. Wie Tanzende im Club. Früher. 

Er schließt die Augen. Kleine Lichtblitze zucken durch den Raum. Die Luft ist warm und klebt auf der Haut. Zufällig berührt eine Hand sein Gesicht und mit wunderbar betäubten Sinnen stellt er fest, dass er knutschend an der Clubwand steht. Das Halbdunkel wummert. 

Er seufzt. Es liegt am Samstag. Am ganzen Wochenende, das weiß er inzwischen. Montag bis Freitag — das geht. Einfach ist es auch nicht, aber die Arbeits-Mittagspause-Feierabendgetränk-Routine, die er sich zu Hause erschaffen hat, lässt die Tage irgendwie vorbeiziehen. 

Hin und wieder hat er sogar Spaß daran und das Gefühl, wirklich etwas geschafft zu haben. Nur das Wochenende, dieses verdammte, beschissene Wochenende versaut immer alles. Da kriecht sie langsam und giftig ins Herz, die Frage: Wieso bin ich Single? Gerade jetzt?

Take me out tonight
Because I want to see people
And I want to see life

Single sein war nie trist, Single sein war seine Lebensphilosophie. Als DJ hatte er sich nach und nach einen Namen in der Szene gemacht, war gefragt. Jedes Wochenende ein Gig, manchmal zwei und wenn nicht, warf er sich selbst in die warm-klebrige Masse Körper. Gab sich dem Rausch der Klänge hin. Fand kastanienbraune Augen am einen, herkulesanmutende Arme am nächsten Abend. Liebte sie alle. Eine Nacht, zwei Wochen oder auch mal einen Monat. Er war frei, wild, selbstbestimmt. Nicht: Allein, einsam, verschreckt.

Er fährt sich gedankenverloren durch die Haare, denkt an das Wunder der Berührung. Er könnte es immer noch tun. Er kennt Whatsapp-Gruppen und Freundesgrüppchen, die Raves heimlich veranstalten, bei sich, im Wald oder auf einer dunklen Wiese. Einmal war er dabei und bereute es ganze vierzehn Tage danach. Es ist so viel komplizierter als mit HIV. Da wusste man wenigstens, wenn man sich aktiv und bescheuert einem Risiko aussetzt. Vermeiden lies es sich auch erschreckend einfach. Und sowieso — hätte man sich angesteckt mit HIV, man hätte nicht alle Menschen im Bus, auf dem Weg zum Fitnessstudio oder seine Großeltern durch einen Huster angesteckt. Wie einfach die Welt noch vor einem Jahr war.

Es kommt ihm vor wie eine andere Welt. Wie unachtsam er mit der Freiheit umging. Nichts ahnend, dass die süße Unbeschwertheit bald Vergangenheit sein würde. Alle "Probleme" von vorher jetzt lächerlich erscheinen.

Take me out tonight
Take me anywhere, I don’t care,
I don’t care
I don’t care

Das Handy leuchtet, wird dunkel. Leuchtet, wird dunkel. Er greift danach, entsperrt den Bildschirm mit einer Grimasse, sieht das kleine Feuerzeichen in der Push-Nachricht und klickt darauf.

Wieder ein Tindermatch. Er schreibt kurz zurück. „Na?“ Senden. Er kräuselt den Mund. Öffnet die App. Wie sah er noch mal aus? Ah, da. Drei Jahre jünger, Muskel-Shirt, Tattoo. Eigentlich nicht sein Typ, aber naja. Er öffnet den Chat und tippt „Cooles Tattoo! Bedeutung?“ Mein Gott, wie erbärmlich. Könnte er heute Abend wie gewohnt in den Club gehen, wäre all das nicht nötig.

Wie oft schon klang jemand im Chat umwerfend und war furchtbar abstoßend im echten Leben? Und umgekehrt. Aber was ist "echtes Leben" eigentlich? Was ist mit Adi?

There is a light and it never goes out

Videodates können nicht lügen. Nur der Geruch fehlt und die entspannte Bar-Atmosphäre. Trotzdem. Denkt er an ihr letztes Gespräch, wird ihm ganz warm. Fünf mal schon haben sie sich "live" im Video gesehen. Schreiben sich den ganzen Tag über. Fast ist es, als wäre er dabei, während des langen Tags. „Fucking Wochenende!“ Send. Es dauert nicht lang, da leuchtet das Handy. „Was machst du? Wär so gern bei dir.“

There is a light and it never goes out
There is a light and it never goes out
There is a light and it never goes out

Die Begegnungen, die er neuerdings online hat, fühlen sich anders an als die Bekanntschaften aus Clubs. Sie sind tiefer und ernster. Die Gespräche länger und bedeutender. Die Qual der Wahl, sie ist etwas einfacher, wenn man doppelt prüft, in sich reinhört, bevor man kopflos ins Abenteuer springt. Wer ist das Risiko wert? Meines Herzens und meines Lebens?

Adi, Adi, Adi. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und er steht vom Bett auf, lässt die Staubkörnchen ohne ihn weitertanzen, stellt die Musik lauter.

And if a double decker bus crashes into us
To die by your side is such a heavenly way to die

Episch, dramatisch, romantisch! So ist Dating 2021. Schrecklich und schön. Romantisch, wie es den Romantikern im 19. Jahrhundert gefallen hätte. Oder The Smiths. Liebe, Nähe; die so sehnsüchtig, so unendlich stark vom Protagonisten herbeigewünscht werden, dass er fast verzweifelt. Eine Todesgefahr. Nicht nur für ihn und sie oder ihn und ihn oder sie und sie. Für alle, die all diese Protagonisten kennen, ihnen in den nächsten zwei Wochen aus Versehen oder gewollt zu nahe kommen, wenn sie noch nicht husten, noch nicht fiebrig sind, aber doch schon gefährlich.

Oder doch nicht? Stecken wir uns nicht an? Küssen wir uns im Rausch, heimlich an der Wand meiner, Deiner Wohnung? Bleibst Du dann? Möchte ich das?

Oh,
To die by your side
Well the pleasure,
The privilege
Is mine

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