Daten war nie so romantisch wie 2021 – Ein Single aus Valencia erzählt

© Patrizia Barbera, Bearbeitung Reisevergnügen

von Patrizia Barbera

Me esquivas, me escribes, me recibes
Me quemas, me enfrías

Die sehr Geliebte. Die Liebende. Ha! Sie wedelt mit dem Streichholz, legt es in den vollen Aschenbecher auf dem Terrassentisch und lehnt sich über das Geländer. Es stimmt, es ist, wie sie singt. Du vermeidest mich, du schreibst mir, du empfängst mich. Sie zieht lang an ihrer Zigarette und sagt im Umdrehen in die leere Wohnung hinein „Alexa, spiel den Song lauter!“ Du verbrennst mich, du lässt mich erfrieren. Der Beat beeilt sich, klettert unkontrolliert den La-Bien-Querida-Song rauf. Wird dramatischer mit jeder Minute. „Me envenenas“. Du vergiftest mich. 

Sie schaut weg vom blinkenden Handy und auf die leere Straße unter ihr. Ein, zwei Spaziergänger mit Maske. Hinten an der Ecke zwei Polizisten der Guardia Civil. Sie stößt einen Fluch aus. 300 Euro. Sie kann es immer noch nicht fassen. Weil sie zehn Minuten nach offizieller Ausgangssperre draußen war. „Malditos policías!“ Was sonst gibt es am Tag, das sie erfüllt mit Neuem als das kurze Gassi-Gehen mit ihrem Hund? Wie soll sie das bezahlen von ihrem Selbstständigen-Gehalt, bei ständig abspringenden Kunden?

Me encuentras, me desarmas, me asaltas

Der Ex oder der Polizist — alle gleich. Du findest mich, Du entwaffnest mich, Du greifst mich an.

Eine nasse Schnauze gräbt sich langsam in ihren rechten Unterschenkel. Sie lächelt, wuschelt kurz den inzwischen seniorenalten Kopf des tollpatschigen Havaneser-Mischlings, ihrer Langzeitliebe seit zehn Jahren, und denkt zurück. Alles Schöne, alles Schreckliche. Wir jetzt und im nächsten Moment Du und ich.

Y me invitas a tu casa y
Me arrastras, me confiesas, me condenas
Me espías,
Me confías,
Me traicionas

Deine Hunde-Allergie, mein Welpen-Kauf. Du schliefst und ich, den fiependen Hund in meiner Hand, stand am Ende des Betts, wartete, bis Du wach warst. „Was ist das, spinnst du?“ Dein zerstreuter, wütender Blick, die heisere Stimme und meine dagegen, ganz klar, das erste mal seit Jahren: „Ich habe mir einen Hund gekauft. Ich will mich scheiden lassen.“ Der fiepende Schutzwall. Der Traum davor, der Albtraum danach.

Das neue, wiedergewonnene, dennoch leere Leben in der neuen Stadt am Meer. Valencianächte in Clubs, auf Dates am Meer, die vielen inszenierten Bilder und Hashtags auf Instagram. Die Freiheit, die vielen neuen Liebschaften.

Me enciendes, me apagas, me acompañas
Me curas, me enfermas, me iluminas

Dann die Nachricht. Gerade als alles neu und machbar schien. Die Tragik, die Vergangenheit im Jetzt. „Sie sind in der Warteliste nach oben gerückt. Möchten Sie die angefragte In-vitro-Fertilisation noch beginnen?“ Die Zweifel, die große Frage. Ist das meine letzte Chance? Sollten wir es doch versuchen?

Me torturas, me abrazas, me alejas
Me persigues, me consigues, me consientes
Y me das la vida

Gerade jetzt, immer wieder jetzt, da alle wieder eingesperrt sind in ihr Stadtwohnungsleben. Dunkle Gedanken sind Haifische. Sie packen einen, bis man bewusstlos am Boden liegt. War ich schuld? Du jagst mich, Du kriegst mich, Du verwöhnst mich.

Wir beide? Du quälst mich, Du umarmst mich, Du stößt mich weg.

Hätten wir schon ein Kind? Und Du gibst mir Leben.

Sie schüttelt den Kopf, verlässt die Terrasse und stellt sich vor den Kühlschrank. Es ist immer noch schwül, jetzt im Oktober, und sie überlegt kurz, ob sie den Kopf nicht einfach hineinstecken soll; lässt es und stellt sich stattdessen unter die kalte Dusche.

Me convences, me enloqueces
Me recuerdas, me rondas, me enredas

„Wie geht es Dir? Erinnerst Du dich an das kleine Mädchen von nebenan, das Du so mochtest? Es ist gestern in die Schule gekommen. Ich soll dich lieb grüßen.“

Du überzeugst mich, Du machst mich verrückt
Du erinnerst mich, Du durchstreifst mich, Du verwickelst mich

Du. Ich. Wir? Unser verpasstes Happy End? Die Tropfen fallen dick und heftig auf den Porzellanboden der Dusche. Was, wenn…

Me resucitas y me matas de amor

„Ja, natürlich. Wie geht es ihr?“ Senden. Seufzen. Du erweckst mich wieder und Du tötest mich mit Liebe. Drei kleine Punkte, die sich wellenartig bewegen. Sie wartet, beobachtet. Die Punkte verschwinden. Starten erneut. Stoppen. Zwei Minuten, zehn Minuten, zwei Stunden. Keine Antwort. Wie immer. Du quälst mich, Du umarmst mich, Du stößt mich weg.

Me torturas, me abrazas, me alejas

Dann endlich, wirklich, ganz klar und leuchtend: Keine Zweifel, kein Hin und Her. Ein Gedanke, so hell: Mein Gefühl stimmte, stimmt immer!

Y me dices cuatro cosas que
Me alientan, me alimentan
Me envenenan

Sie lächelt und greift nach dem Handy. Löscht seine Nummer und stößt einen hellen Schrei aus.

Du vergiftest mich nicht mehr. Es hallt in der leeren Wohnung und sie erinnert sich an all die guten Gedanken, die sie in den letzten Wochen hatte. All die Ruhe, die neuentdeckte Meditationsliebe und ja, Erfüllung mit sich selbst, jetzt, da die Welt draußen still steht. Trotz Horror-News, trotz Alleinsein. Gerade wegen des Alleinseins?

Ruhe, endlich. Keinem beweisen, dass man ständig hip und schick ist. Nur sich selbst genügen. An seinen eigenen Projekten arbeiten: frei, wild, glücklich. Sie streicht über ihre Arme und setzt sich in die Sonne, die warme Hundeschnauze drückt sich warm in ihren Unterschenkel. „Alexa, spiel A Trick of the Light von Villagers.“

Den zweiten Teil des Artikels kannst du hier lesen.

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