So ganz konnte ich es nicht glauben. Sieben Tage, 465 Kilometer und 6.030 Höhenmeter nachdem ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss gezogen und mich auf den Sattel meines Mountainbikes gesetzt hatte, stand ich nun am Ortsschild von Venedig und konnte mit Stolz behaupten, dass ich meine erste Alpenüberquerung absolviert hatte.
Die erste Tagesetappe würde die anspruchsvollste sein, das wusste ich von Beginn an. Knapp 90 Kilometer und 1.600 Höhenmeter lagen vor mir und ich war gerade mal bei Kilometer vier, als ich mich fragte, was ich hier eigentlich mache. Hatte ich mich selbst überschätzt? War ich nicht trainiert genug? Das Treten war die reinste Qual und die Kilometeranzeige am Tacho wollte einfach nicht nach oben klettern. Rückblickend sollten die ersten zehn Kilometer am Rad die anstrengendsten der ganzen Tour sein, was vermutlich einfach damit zu tun hatte, dass ich die Strecke vom Autofahren kannte und sie normalerweise entsprechend schnell am Fenster vorbeizog. Doch für eine Strecke, für die ansonsten gerade mal zwanzig Minuten einzuplanen war, benötigte ich dank einer ordentlichen Steigung und zwei Rädern weniger unter mir satte eineinhalb Stunden.
Als ich dann aber nach vier Stunden am Brennerpass stand und die Grenze zu Italien passiert hatte, machte sich endlich die Gewissheit breit, dass ich die bevorstehenden Tage schaffen würde. Zwar kam ich an diesem ersten Tag durchgeschwitzt und k.o. an unserem ersten Etappenziel an, aber ich war glücklich und zufrieden. Und stolz, dass ich den Tag geschafft hatte.
Die nächsten Tage waren von kürzeren und weniger anspruchsvollen Tagestappen geprägt, so dass ich auch noch Zeit für den ein oder anderen Umweg zum Sightseeing hatte. So begann ich Tag drei mit einem Abstecher zum berühmten Pragser Wildsee, überquerte landschaftlich reizvolle Bergpässe wie die Plätzwiese in Südtirol, radelte entlang einer stillgelegten Bahntrasse nach Cortina d’Ampezzo und kam an Tag sechs genau rechtzeitig zum Aperitivo in Bassano del Grappa an.
Nur an Tag vier plagte mich gleich nach Aufbruch ein kleines Motivationstief, ich wollte nicht so recht den Rhythmus beim Treten finden und empfand die ersten Kilometer einfach nur anstrengend. Ein kurzer Zwischenstopp zum caffè in einer typisch italienischen Bar war jedoch das Geheimrezept, um zurück in meine Form zu finden und wieder Spaß an der Tour zu haben.
Ich müsste lügen, würde ich abstreiten, dass ich einen kleinen Adrenalinschub erlebte, als ich wenige Kilometer vor Venedig um die letzte Kurve bog und sich vor mir am Ende des Horizonts plötzlich die Silhouette von Venedig erhob. Ich genoss die Zufahrt über die 5 Kilometer lange Meeresbrücke und der Anblick der stets größer werdenden Kuppel des Markusdoms. Und dann plötzlich stand ich unmittelbar davor: am Ortsschild von Venedig.
Um die Faszination einer Alpenüberquerung zu beschreiben, beginnt man am besten am Ende: Am Ende eines jeden Tages, wenn man müde und erschöpft in der Unterkunft ankommt und sich nach nichts weiter als einer warmen Dusche, einem reichhaltigen Essen und einem bequemen Bett sehnt. Es ist eine zufriedenstellende Müdigkeit, die sich in den Körper einschleicht und die man erst so richtig zu spüren bekommt, wenn man nach etlichen Kilometern und Höhenmetern vom Sattel steigt und auf einen anstrengenden, aber erfolgreichen Tag zurückblicken kann.
Und dann ist da noch die Ankunft am letzten Tag. Die letzten Kilometer, die man mit immer müder werdenden Beinen zurücklegt, während zugleich die Vorfreude und die innerliche Genugtuung immer größer werden. Und plötzlich ist man angekommen, muss erst realisieren, dass die Alpenüberquerung nun zu Ende ist und man sich – wie in meinem Fall – nun erstmal ein paar Tage Erholung und Nichtstun an der Adria verdient hat.
Um die Faszination einer Alpenüberquerung zu beschreiben, beginnt man am besten am Ende: Am Ende eines jeden Tages, wenn man müde und erschöpft in der Unterkunft ankommt und sich nach nichts weiter als einer warmen Dusche, einem reichhaltigen Essen und einem bequemen Bett sehnt.
So wirklich glauben konnte ich meine Leistung übrigens erst, als ich im Auto auf dem Weg zurück nach Hause saß und ich an meinem Fenster Kilometer für Kilometer die Landschaft vorbeiziehen sah, die ich die Tage zuvor mit dem Rad durchquert hatte. 465 Kilometer aus eigener Kraft. Von der eigenen Wohnungstüre bis nach Venedig. So ganz realisiert habe ich das wohl bis heute noch nicht...
Für viele ist eine Alpenüberquerung – egal ob zu Fuß oder mit dem Mountainbike – ein langgehegter Traum. Doch es muss nicht beim Traum bleiben. Denn je nach körperlicher Fitness und eigenem Anspruch finden sich sowohl für Wander- als auch Radtouren unterschiedlichst anspruchsvolle Varianten. Von gemütlich und bequem, mit Hotelübernachtung und Gepäcktransport bis hin zu sportlich ambitioniert, mit Übernachtung in einfachen Matratzenlagern auf Hütten.
Um sich selbst nicht zu überschätzen und eine geeignete Route zu finden, sollte man sich am besten in ausgewählten Büchern oder Blogs informieren, sich überlegen, welche (Tages-)Touren man bislang gemeistert hat und zumindest seit Beginn der Saison bereits ein paar Touren an aufeinanderfolgenden Tagen gemeistert haben, so dass die Füße oder der Hintern an die Belastung gewöhnt sind.
Vor meiner Alpenüberquerung habe ich mich von einem Buch mit verschiedenen Routenempfehlungen inspirieren lassen und plante die einzelnen Tagesetappen dann mithilfe der Outdoor-App komoot. Die Planung mit App ermöglichte mir, ganz genau zu sehen, wie viele Kilometer und Höhenmeter mich pro Tag erwarteten, wo ich noch landschaftliche Highlights integrieren konnte und in welchem Ort ich das Etappenziel und somit ein Hotel suchen wollte.
87,2 km | 1.580 hm bergauf | 1.310hm bergab
Über die alte Brennerstraße führt die erste Etappe durch das Wipptal stets bergauf bis zum Brennerpass – der Grenze nach Italien. Auf der gut ausgeschilderten Tour folgt man leider vielen Kilometern der Straße, kommt aber glücklicherweise abschnittsweise auf ruhigere Radwege und findet ausreichend Bänke, um sich vom schweißtreibenden Aufstieg zu erholen. Angekommen am Brennerpass, ist die größte Schwierigkeit des Tages geschafft, am Brennersee lohnt eine kurze Verschnauf- und Essenspause, bevor das Rad dann entlang eines landschaftlich tollen Radwegs sämtliche Höhenmeter wieder wie von selbst hinabrollt. Am frühen Nachmittag führt die Tour durch die Altstadt von Sterzing, hier muss Zeit für einen Kaffee und Kuchen im Gastgarten sein. Das Wissen um die letzten Kilometer des Tages macht das Treten nochmals einfacher, bevor ich im Hotel Sachsenklemme ankomme und nach einem sehr empfehlenswerten Essen zufrieden ins Bett falle.
69,7km | 970hm bergauf | 650hm bergab
Der zweite Tag der Alpenüberquerung führt in einem gemütlichen und weit weniger anstrengendem Auf und Ab entlang des Pustertals. Der Radweg ist schön ausgebaut, so dass die Straße größtenteils vermieden werden kann. In der Altstadt von Bruneck wartet der erste Kaffee-Stopp, am Ufer des Olanger See genehmige ich mir die mitgebrachte Stärkung, bevor ich mich für die letzten Kilometer des Tages nochmals auf den Sattel schwinge. Am frühen Nachmittag erreiche ich Villabassa, mein heutiges Tagesziel, wo ich im Restaurant Adler ausgezeichnet Südtiroler Köstlichkeiten esse.
58,7km | 1.210hm bergauf | 1.270hm bergab
Tagesetappe drei soll sich später als das Highlight der ganzen Tour herausstellen. Denn nur wenige Kilometer von Villabassa entfernt liegt der berühmte Pragser Wildsee, der nur einen kleinen Umweg zur geplanten Route darstellt. Und so startet der Tag bereits mit einem ersten Highlight, bevor es dann über die landschaftlich wunderschöne Plätzwiese führt. Zwar hat es der Aufstieg in sich, doch oben angekommen wartet ein richtig kitschiges Alpenpanorama und natürlich eine lohnenswerte Einkehr auf der traumhaft gelegenen Dürrensteinhütte – standesgemäß mit Kaiserschmarrn. Die Route führt weiter über eine stillgelegte Bahntraße, vorbei an alten Bahnhofshäuschen und durch zahlreiche alte Bahntunnel, bis man schlussendlich in Cortina d’Ampezzo ankommt. Ich lasse das Mountainbike gemütlich durch die Stadt rollen und stoppe für einen Nachmittagskaffee mitten im Zentrum. Auch hier haben es die Preise rund um Ferragosto in sich, so dass ich noch wenige Kilometer weiter nach Borca di Cadore trete, wo ich im Hotel Boite nächtige – eine einfache Unterkunft mit dem Charme eines 70er Jahre Skihotels. Bei Pizza und Aperol lasse ich den Abend in San Vito di Cadore ausklingen, wo zum ersten Mal ein Hauch mehr Italien als Südtirol in der Luft liegt.
73,4km | 880hm bergauf | 1.550hm bergab
Landschaftlich schön, aber nicht groß spektakulär ist die Fahrt durch das Tal des Piave an Tag vier der Alpenüberquerung. Vor allem an heißen Tagen ist die Tour entlang des Flusses eine willkommene Abwechslung, so dass ich hie und da einen Zwischenstopp zum Füße abkühlen einlege und auch die im Supermarkt erstandenen Panini direkt am Wasser genieße. Die größte Belohnung wartete am Ende des Tages allerdings in Belluno – denn was gibt es Besseres als eine anständige Portion Gelato nach mehr als 70km am Rad bei über 30 Grad? Belluno selbst ist ein nettes kleines Städtchen mit italienischen Gassen und Plätzen. Ich nächtige etwas außerhalb von Belluno in einem typisch italienischen Agriturismo und werde bei Ankunft im Antico Fienile direkt mit einem Glas Prosecco und – noch viel besser – einem erfrischenden Pool begrüßt.
54,5km | 810hm bergauf | 900hm bergab
Da Etappe 5 deutlich kürzer und auch weniger Höhenmeter zu bieten hat als die Tage zuvor, plane ich von Beginn an einen Umweg in den Nationalpark der Dolomiti Bellunesi ein. Denn der schön gelegene Lago del Mis ist nicht nur Highlight entlang der heutigen Tagesetappe, sondern auch zu einladend, um einfach vorbeizuradeln. Somit lege ich die erste richtige Badepause der Tour ein und genieße es, einfach mal in der Sonne zu liegen. Der weitere Verlauf der Tour führt durch abwechslungsreiche Landschaften und typisch italienische Dörfer – die allerdings allesamt nur wenig an Infrastruktur zu bieten haben. Umso schöner ist jedoch die Unterkunft: Die Villa San Liberale präsentiert sich als herrschaftliche Villa in schöner Alleinlage, toller Dachterrasse und einer guten Auswahl an Weinen. Empfehlenswert auch die Spaghetteria Salgarda, mit der vermutlich besten Pasta der Region.
55,7km | 550hm bergauf | 770hm bergab
Landschaftlich abwechslungsreich zeigen sich auch die rund 55km von Feltre nach Bassano del Grappa. Am Lago di Corlo lohnt ein erster Zwischenstopp, nicht nur um die Landschaft genauer zu betrachten, sondern auch um direkt am Ufer einen caffè zu genießen. Über das Brentatal führt die weitere Route dann stets dem Brenta-Fluss folgen weiter Richtung Süden. Ein weiteres Highlight der Tour ist Bassano del Grappa, mein Tagesziel und ein süßes italienisches Städtchen. Enge, belebte Gassen, Cafés und Bars an jeder Ecke und tolle Aussichtspunkte machen die Stadt zu einem lohnenswerten Ziel nicht nur bei einer Alpenüberquerung. Ich verbringe den Rest des Tages damit, meine Füße im Fluss abzukühlen, durch die Gassen zu bummeln, ein Eis zu schlecken und mich bei Pizza und Pasta für den Tag zu belohnen. Nicht entgehen lassen sollte man sich zudem den typischen Aperitivo in der beliebten Nardini-Bar. Denn nichts könnte Italienischer sein, als mit einem Glas mezzoemezzo, einem Aperitif-Getränk des berühmten Grappa-Herstellers, in der Hand am Platz zu stehen und dem Treiben in den Straßen zuzusehen. Ich verbringe die Nacht im Terraglio Rooms mit einer tollen Dachterrasse mit Blick über die Stadt, ebenso empfehlenswert sind aber viele kleine B&Bs wie etwa das Le 33.
66,1km | 30hm bergauf | 160hm bergab
Zugegeben: Echte landschaftliche Highlights hat die letzte der sieben Etappen nicht mehr zu bieten, vielmehr dient diese lediglich dazu, schnell voranzukommen und das Ziel der Alpenüberquerung zu erreichen. Zudem lassen die Radwege von Bassano del Grappa nach Venedig zu wünschen übrig, so dass ich die meiste Zeit auf der Straße radeln und die Autos an mir vorbei zischen. Zwar passiere ich nette kleine Dörfer, doch wirkliche Highlights sind darunter nicht. Immer wieder stoppe ich, um mir bei einem caffé oder panini eine Pause zu gönnen, ich bin aber schlussendlich froh, dass die Distanz zu meinem Ziel immer kürzer wird. Als dann auf den letzten Kilometern nach einer langgezogenen Kurve plötzlich Venedig vor mir zu erkennen ist, ist die Anstrengung der letzten Kilometer jedoch komplett vergessen. Motiviert, stolz und glücklich trete ich noch einmal kräftig in die Pedale, um nach der langen Zielgerade über das Meer am Ortsschild von Venedig vom Rad zu steigen.
Räder sind, egal ob im Sattel oder nur schiebend, in Venedig verboten. Verständlicherweise, ist die Stadt doch üblicherweise gerade in den Sommermonaten völlig überlaufen. Für mich hätte dies jedoch bedeutet, das Rad direkt an der Stadteinfahrt in einer Tiefgarage oder Ähnliches abzustellen, um von dort ins Zentrum zu kommen. Zu mühsam nach 465 Kilometern in den Beinen! Zwar lässt mich diese Tatsache noch heute schmerzlich das triumphierende Gefühl vermissen, mit meinem Rad mitten am Markusplatz in Venedig zu stehen, dennoch weiß ich um meine Leistung. Und die kann sich nach den letzten sieben Tagen sehen lassen!
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