Der Dschungel der Schweiz – So schön ist das Onsernonetal
Wer den Schweizer Kanton Tessin kennt, dem fällt vielleicht als erstes der Lago Maggiore, der Luganersee oder Locarno und Lugano ein. Klar, die bekanntesten Kinder des Tessins sind wunderschön und zurecht das Aushängeschild. Aber wie das so ist mit Familien gibt es auch die stillen Mitglieder, die sich nicht immer nach vorn drängeln, aber deswegen nicht weniger zu bieten haben. Im Gegenteil, die wahre Schönheit des Tessins offenbart sich erst, wenn man die kleinen Straßen nimmt, die vom Lago Maggiore und Luganersee ins Hinterland abzweigen.
Eine dieser Straßen ist die Via Onsernone im Westen des Tessins. Sie führt ab Cavigliano, das nordwestlich von Locarno liegt, tief in das Onsernonetal und ist die einzige Straße, auf der man das Gebiet überhaupt erreichen kann. Während man Cavigliano noch recht gemäßigt über gerade Straßen erreicht, wird es spätestens ab dem kleinen Ort sehr kurvig, aber vor allem: grün. Unendlich und unfassbar grün! Das Onsernonetal ist die grüne Lunge des Tessins, ein einziger Dschungel. Das Tal ist gezeichnet von urwaldartigen Wäldern und tiefen Schluchten, durch die sich der Fluss Isorno schlängelt. Entlang der 22 Kilometern langen Via Onsernone reihen sich viele Dörfer aneinander, eins hübscher als das andere. Wohl auch deshalb ließen sich hier schon Schriftsteller wie Max Frisch inspirieren.
Das Onsernonetal könnt ihr schon an einem Wochenende entdecken, aber wie das mit allen magischen Orten ist, will man eigentlich noch viel länger bleiben, bis man selbst Teil der Magie ist. Ich habe auf meinem Tessin-Trip einen kurzen Abstecher hier hin gemacht und zeige euch meine liebsten Orte hier.
Übernachte mit dem Blick aufs Onsernonetal in der Villa Edera
Auressio ist eines dieser verschlafenen Orte an der Via Cantonale, den kaum ein Tourist kennt und der deshalb so wunderschön ist. Die Wege hier sind steil und uneben, die Häuser bunt und eng aneinander gebaut, die Menschen freundlich und gemütlich. Auf einer kleinen Anhöhe steht die Villa Edera, umgeben von Palmen und Magnolienbäumen. Der große Garten gibt den Blick auf das grüne Tal frei, ein Anblick, den man am besten aus einem der Gartenstühle genießt, um nicht vor Staunen umzufallen.
Das Beste an der Villa Edera ist, dass sie eines der wenigen Hostels im Tessin ist. Die Idee dafür hatte der Tessiner Mike Keller, der sein Onsernonetal auf die Bildfläche junger Reisender aus aller Welt bringen will. Da jene Backpacker ja meistens chronisch unterfinanziert sind und sich die Schweiz daher eh schon kaum leisten können, ist das für beide eine klassische Win-Win-Situation. Seit 2017 führt er unter dem Namen Wild Valley Hostels drei Herbergen, in denen Traveller günstig, aber wunderschön unterkommen: die Villa Edera in Auressio, die Casa Schira in Loco und das Ostello Vergeletto im gleichnamigen Dorf. In allen drei Gebäuden gibt es Einzel-, Doppel- und Mehrbettzimmer und Küche sowie der Gemeinschaftsraum sind für alle da.
Villa Edera | Via Cantonale 14, 6661 Auressio, Schweiz | 30 CHF Mehrbettzimmer, 55 CHF Einzelzimmer, 80 CHF Doppelzimmer | Zur Website
Futtere dich durch die traditionelle Tessiner Küche im Grotto du Rii
Es gibt nichts Tessinerisches, als den Abend in einem Grotto, mit einem Glas weißen Merlot in der einen und einer Gabel voll Polenta in der anderen Hand zu verbringen. Grotti sind traditionelle Tessiner Gasthäuser, meistens direkt in einen abgelegenen, schattigen Felsvorsprung gebaut. Ursprünglich dienten sie als Lagerstätte für Lebensmittel, da es hier angenehm kühl war. Der unoffiziellen Legende müssen sich die Tessiner während einer Arbeitspause mit einem Stück Wurst und Brot und einem Glas Wein einfach vor die Tür der frühzeitlichen Kühlschränke gesetzt haben, die gesellige Runde wurden immer größer, irgendwann kamen wahrscheinlich ein paar Tische und Stühle hinzu und so entstanden die heutigen Grotti.
Klassischerweise werden hier deshalb immer noch kalte Speisen und Antipasti wie Tessiner Wurstwaren und Käseplatten serviert. Auf dem Menü stehen aber auch Risotto mit Luganighetta, Polenta mit Schmorbraten, Minestrone oder Kutteln. Ganz wichtig: Als Aperitif gibt es hier nicht Aperol Spritz, sondern weißen Merlot, zum Nachtisch darf ein Schluck Nocino nicht fehlen. Und zwischendurch genießt man Rotwein. Mit einer wahnsinnigen Aussicht auf das Onsernonetal und zwischen grünen Laubbäumen könnt ihr den Abend im Grotto du Rii verbringen, das passenderweise auch Zimmer zum Übernachten hat. Wenn der weinselige Abend dann doch mal länger geworden ist, kann man hier wenigstens direkt ins Bett fallen.
Grotto du Rii | Via Cantonale, 6655 Intragna, Schweiz | Juil & August: täglich geöffnet, Mittwoch geschlossen | Zur Website
Bestaune das Onsernonetal von oben bei einer Wanderung zur Alpe Salei
Um das Onsernonetal richtig kennenzulernen, musst du dich erst ganz tief hinein oder dann hoch hinaus begeben. Fast am letzten Ende des Tals, wo die Talstraße immer enger, steiler und geschwungener wird, sodass oftmals nur noch ein Auto den Weg durch ein Dorf passieren kann, befindet sich die Seilbahn Funivia Alpe Salei. Die Seilbahn befördert dich in sieben Minuten auf 1783 Meter zur Alpe Salei – und in eine so idyllische Bergwelt, dass man sich glatt in einem Bilderbuch vermutet. Hier oben werden deine Sinne auf Reset geschaltet: Fernab von jeglichem zivilisatorischen Lärm hörst du hier nichts außer das Summen der Bienen, das Plätschern kleiner Bäche und die Flügelschläge der Tausenden Schmetterlinge, die dich auf deinem Weg begleiten.
Zu Beginn der knapp sieben Kilometer langen Wanderung solltest du vom Ausstieg der Bergbahn den Weg links zum Pizzo Zucchero nehmen, von dem aus du den besten Blick auf Onsernonetal und die Bergketten hast, die von hier oben aussehen wie weiches Moos. Danach nimmst du den Weg zurück zur Capanna Salei und hoch zum Lago Salei, von wo aus du sogar bis zum Lago Maggiore blicken kannst. Der Aufstieg ist kurz, aber steil, sodass du dich mit einem kurzen Bad in dem kleinen Bergsee erfrischen kannst. Danach geht es auf der anderen Seite des Bergs im Schatten weiter zur Alpe Pesced; der Weg führt dich durch duftende Nadelwälder und steinige Passagen, Trittsicherheit und gutes Schuhwerk sind also ein Muss. Von der Alpe Pesced folgst du dann dem Weg zurück zur Berghütte Capanna Salei. Die Wanderung dauert rund dreieinhalb Stunden, je nachdem wie viel Zeit du damit verbringst, deine Lungen mit der frischen Luft hier oben zu füllen.
Seilbahn Funivia Alpe Salei | Zott, 6664 Vergeletto, Schweiz | geöffnet 18.05 bis 31.10., Montag – Freitag: 8.30–13 Uhr, 14–18 Uhr, Samstag, Sonntag & Feiertage: 8.30–18.30 Uhr
Bevor du wieder die Seilbahn ins Tal nimmst, solltest du unbedingt in das Gasthaus Capanna Alpe Salei einkehren. Die steinerne Hütte befindet sich auf einer alten Weide und wird seit ein paar Jahren von dem Ehepaar Gianluca Quintini und Ilenia Polo geführt, die hier oben mit ihrem Sohn von Mai bis Oktober wohnen und Gäste bewirten. Während Gianluca für den Service und die Instandhaltung des Hauses verantwortlich ist, zaubert Ilenia leckere Gerichte – ihre Spezialität ist die Polenta mit Käse und Speck, aber ich empfehle euch auch unbedingt an der Tessiner Wurst- und Käseplatte gütlich zu tun, denn der Käse kommt direkt von der nahe gelegenen Alpe Pesced und das Fleisch aus Tessiner Herstellung. Aber es reicht auch, sich eine Gazoza zu bestellen und bei der süßen Brause die Aussicht auf das Tal zu genießen. Wer noch ein bisschen mehr Zeit hier oben verbringen will, kann hier sogar übernachten. Drei Räume, zwei für Paare und Familien, und einer für Gruppen bis zu acht Personen stehen bereit.
Capanna Salei | Alpe Salei, 6663 Onsernone, Schweiz | Mai bis Oktober: Montag bis Freitag 8.30–12.00 Uhr, 14.00–18.00 Uhr, Samstag & Sonntag 8.30–18.30 Uhr | Zur Website
Alte Traditionen wiederbelebt: So wird Farina Bona hergestellt
Eine echte Tessiner Spezialität, die du nicht mal im Grotto findest, wird in Vergeletto hergestellt. Schon wenn du hier aus dem Bus oder dem Auto aussteigst, kommt dir der Duft von Popcorn entgegen, der dich auch bei einem Spaziergang durch das idyllische Dorf, entlang der alten Mühlen, grünen Wäldchen und des Wasserfalls, der durch Vergeletto rauscht, begleitet. Ilario Garbani ist der Mann, dem es zu verdanken ist, dass dir hier das Wasser im Mund zusammen läuft. Der ehemalige Lehrer und Musiker ist verantwortlich für die Renaissance der Farina Bóna.
Im 17. und 18. Jahrhundert standen in Vergeletto zahlreiche Mühlen, in denen aus Roggen mit Wasserkraft Mehl hergestellt wurde. Dabei wurde der Roggen zunächst geröstet, um ihn länger haltbar zu machen. Die gleiche Tradition wurde später auf Mais übertragen, der seit Ende des 19. Jahrhunderts aus der Gegend um Locarno ins Onsernonetal gebracht wurde, zum Teil aber auch selbst auf kleinen Feldern im Tal wuchs. So entstand Farina Bóna – geröstetes und gemahlenes Maismehl, besser bekömmlich als Roggen und geschmacklich etwas intensiver. Mit Einsetzen der Industrialisierung verlor die Herstellung schnell ihre Bedeutung – im 20. Jahrhundert gab es nur noch zwei intakte Mühlen, die irgendwann komplett verlassen waren. Bis Garbani kam und in mühevoller Arbeit eine der Mühlen wieder in Betrieb nahm.
Er kümmert sich hier um alles: Das Rösten des Mais, das stundenlange Mahlen und Sieben des feinen Mehls und die Produktion von Kuchen, Kekse, Spätzle, Brot, Pasta, Suppen, Speiseeis, Bier, Likör und dem Brotaufstrich "Bonella". Schau unbedingt mal in Vergeletto vorbei, nimm an einer Führung durch die Mühlen des Dorfes teil und stopfe deine Taschen unbedingt mit den leckeren Produkten voll.