Wie das Smartphone die Erfahrung des Reisens zerstört

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Wenn ihr auf der Suche nach einem Verlag für schöne Reiseliteratur seid, dann solltet ihr bei Reisedepeschen vorbeischauen. Wir dürfen euch hier einen Ausschnitt aus dem im März 2019 erschienen Buch "Vom Glück zu reisen" von Philipp Lage vorstellen. Das Kapitel sollten alle lesen, die im Urlaub ihre Finger nicht vom Smartphone lassen können.

Ausschnitt aus dem Buch "Vom Glück zu reisen" von Philipp Lage

Mit Anfang zwanzig sind meine Freunde und ich jeden Sommer in den Alpen wandern gewesen. Mit dem Rucksack von Hütte zu Hütte. Wir liefen täglich mehrere Stunden, über Almwiesen, Geröllfelder und ausgesetzte Scharten. Wir froren am Morgen und schwitzten am Mittag. Hin und wieder fluchten wir, wenn es stundenlang regnete. Wir schliefen auf Matratzenlagern in Alpenvereinshütten. Abends saßen wir erschöpft bei Tiroler Gröstl und Radler in der Stube. Und dann redeten wir, bis uns die Augen zufielen.

Doch in dem Sommer, als wir in die Ortler Alpen nach Südtirol fuhren, veränderte sich etwas. Das lag an der Telekom, die in einem EU-Land der Wahl ein kostenloses Datenpaket anbot – ein Türspalt zur Welt hinter den Bergkämmen. Damit kehrte eine Zerstreuung in die Abende auf den Hütten ein, die es vorher nicht gegeben hatte.

Danke Telekom!

Tagsüber befanden sich die Smartphones im Rucksack oder in der Tasche. Abends im Gastraum der Hütte lagen die Geräte auf dem Tisch. Einer chattete mit seiner Freundin, ein anderer scrollte durch seine Facebook-Timeline, der Dritte verfolgte Twitter, und der Vierte las den Bericht zum letzten Spiel von Borussia Dortmund. Die Gedanken entschwanden aus der Reizarmut der Berghütte, in der ja eine Möglichkeit lag: Zeit haben, zuhören, reden. Doch unsere Gespräche waren kurz. Sie nahmen immer wieder neue Anläufe, nur um rasch zu versanden. So blieben die Abende statisch. Mir fiel das erst auf, als ich schon wieder zu Hause war.

Wie selten ist das geworden: an einem Tisch sitzen und reden. Heiter, manchmal ernst, stundenlang. Dieses scheinbar ziellose Hin und Her der Gedanken bis zu einer bestimmten Stimmung, die plötzlich etwas verändert, nach der man sich anders begegnet, weil man den anderen mit neuen Augen sieht und diesen ozeantiefen Graben, der zwischen den individuellen Erfahrungswelten zweier Menschen liegt, ein kleines bisschen zuschütten konnte. Stattdessen: unpräzise, abgekämpfte Sätze.

Wie selten ist das geworden: an einem Tisch sitzen und reden. Heiter, manchmal ernst, stundenlang.

Flugsuchmaschinen vergleichen Routen, Airlines und Preise. Booking.com und Airbnb listen Hunderte Unterkünfte, sortiert nach Preisen und persönlichen Vorlieben. Mit Google Maps tragen wir eine Karte für die ganze Welt in der Hosentasche. Es gibt Webseiten, über die wir unterwegs Kontakte knüpfen können, vom Sprachtandem bis zum Date. Apps organisieren die Packliste, finden öffentliche Toiletten, reservieren Tische in Lokalen, stellen Anti-Jetlag-Pläne auf, ermitteln den GPS-Standort eines soeben aufgenommenen Fotos, übersetzen chinesische Schriftzeichen in Speisekarten und liefern Sprüche für den Gesprächsauftakt in 44 Sprachen von Hindi bis Afrikaans. Zu fast jedem Flecken Erde finden wir im Internet mehr Informationen, als wir jemals lesen können.

Das Smartphone ist einfach verflucht hilfreich. Unscheinbar liegt es neben dem Teller beim Frühstück und auf dem Nachttisch im Hotelzimmer, dieses kleine Gerät. Doch es hat die Macht, die Erfahrung des Reisens zu zerstören.

Aus vier Gründen.

Das Smartphone ist verflucht hilfreich. Aber es hat auch die Macht, die Erfahrung des Reisens zu zerstören.

Erstens: Der permanente Zugriff auf Social Media füttert eine kaum zu bezwingende Selbstbezüglichkeit. Was sagt das Foto von mir vor der Golden Gate Bridge? Doch nicht: Wie beeindruckend diese Brücke ist! Sondern: Ich bin San Francisco, du bist  Sankt Peter-Ording. Nicht: Schau dir diese ingenieurstechnische Meisterleistung an. Sondern: Schau mich an! Mein glorreiches Leben! Social Media verändert den Wahrnehmungsmodus, es schaltet dem Erleben stets eine Ebene vor: Ist das interessant genug, um es zu posten? Taugt dieser Ort dazu, mich in Szene zu setzen? Zusätzlich teilen wir uns ständig über Whatsapp mit, weil die Leute zu Hause glauben, wenn man drei Tage nichts schreibt oder postet, sei man verschollen oder tot.

Zweitens: Die Bewertungskultur des Netzes verunmöglicht zunehmend die Überraschung, das Abenteuer. Fast alles lässt sich vorher recherchieren, überprüfen, kontrollieren. Immer gibt es eine andere, womöglich bessere Option, die vielleicht übersehen wurde.

Drittens: Das Smartphone verführt zur ständigen Rückkehr in die Heimat. Wir sitzen

Social Media verändert den Wahrnehmungsmodus, es schaltet dem Erleben stets eine Ebene vor: Ist das interessant genug, um es zu posten? Taugt dieser Ort dazu, mich in Szene zu setzen?

vielleicht auf einer Piazza in Pisa oder Palermo, aber schauen kurz beim Kaffeetrinken in Tante Ulrikes Wohnung vorbei oder auf der Party des besten Kumpels, obwohl die ja schon längst vorbei ist – Moment, warum war ich eigentlich nicht da? Ach ja, ich befinde mich auf einer Reise. Der permanente Einfall des Vertrauten verhindert die Verortung in der Fremde. Das Gefühl des Entrücktseins, des Sichentziehens, des Verschwindens, nicht nur räumlich, sondern als spirituelles Programm, um dadurch einen neuen Blick auf die Dinge zu gewinnen – es kann sich nicht mehr einstellen.

Viertens: Die Beschäftigung mit dem Smartphone beschädigt gezielt die Fähigkeit, uns einer Sache ausgiebig und ohne Ablenkung zu widmen. Das betrifft sogar einstmals harmlose Tätigkeiten wie das Essen und Laufen. »Don’t let your mobile device end your life«, warnt die Denver Railroad in ihren Zügen. Es ist eine Feststellung, die so banal klingt, dass man sie als stumpfen Fortschrittspessimismus abtun könnte, käme sie nicht mittlerweile aus dem Inneren des Maschinenraums: Das Smartphone zerstört unsere Aufmerksamkeit. Das ist keine Begleiterscheinung der Technik, sondern Ziel der Technologiekonzerne.

Das Smartphone zerstört unsere Aufmerksamkeit

Das Silicon Valley predigt das Versprechen auf eine bessere Welt durch Daten und ihre Vernetzung. Doch es gibt eine Reihe von Häretikern. Nicht so sehr die Top-Manager, sondern Entwickler aus dem Mittelbau der Unternehmen, Mitte 30 und somit die letzte Generation, deren Alltag irgendwann einmal nicht von Technologie durchdrungen war. Was sie erzählen, klingt wie die Geschichte von Frankensteins Monster.

Da ist Justin Rosenstein, der bei Facebook den Like-Button erfunden hat. Die Benachrichtigungen, die der Nutzer erhält, Dopamin-Trigger in der Alarmfarbe Rot, bezeichnet er als »bright dings of pseudo-pleasure«, hohl und verführerisch. Rosenstein stellt fest: »Everyone is distracted. All the time.« Mit dieser Beobachtung ist er nicht allein.

Da ist James Williams, Ex-Googler. Er sagt, die Tech-Branche sei die umfassendste Aufmerksamkeitskontrolle in der Geschichte der Menschheit. Tatsächlich ist die Art und Weise, wie Menschen Apps und Social Media nutzen, kein Zufall, sondern das Ergebnis einer hochgradig ausgetüftelten Manipulation. Wir verlieren uns nicht einfach so in sozialen Netzwerken, das ist Absicht. Kurz mal reinschauen, schon ist eine halbe Stunde um, eine volle Stunde, der halbe Tag.

Einer der bekanntesten Silicon-Valley-Aussteiger ist Tristan Harris. Er hat früher ebenfalls bei Google gearbeitet. Er hält Vorträge, die man sich im Internet anhören kann. Darin erzählt er, dass er selbst in den Kontrollräumen gesessen habe, in denen eine Handvoll Leute täglich die Gehirne von Milliarden von Menschen manipulierte. Er erklärt, die Technologie sei nicht neutral, ihre Entwicklung nicht zufällig. Er vergleicht den Pull-to-refresh-Mechanismus von Apps (mit dem Finger runterscrollen, und es wird einem automatisch ein neuer Inhalt angezeigt) mit einer Slotmaschine im Casino, die immer wieder einen neuen Reiz liefert und süchtig macht.

Man sieht sie überall (und in ihnen sich selbst): die Passagiere am Flughafen, zusammengesunken in Geräte starrend, zu müde, um sich dagegen wehren zu können; die Urlauber, die in der Ferne ungeduldig aus dem Flieger steigen, um sogleich die Notifications aus der Heimat zu checken; die Gestrandeten in den Hotel-Lobbys, die nicht wissen, was sie mit dem Tag anstellen sollen und deshalb dem allereinfachsten Impuls folgen und abtauchen; die Reisenden in den Zügen, die nicht mehr die Landschaft beobachten oder ihre eigenen Gedanken; die Gäste der Brunch-Lokale, die zum Frühstück prüfen, was sie über Nacht verpasst haben; die Besucher der Cafés, die nicht nach Empfehlungen für Speisen oder Ausflugstipps fragen, sondern nach dem WiFi-Passwort. Blick aufs Display, Versenkung in der Innenwelt.

Ich glaube, das größte Missverständnis ist der Glaube, dass die digitale Durchdringung des Alltags durch allerlei nützliche Helfer und weniger nützliche Aufmerksamkeitsplattformen ein natürlicher Prozess ist, dem sich nur Spinner und Ewiggestrige widersetzen – und keine gezielte Manipulation, keine raffinierte Steuerung unseres Denkens im Dienste von Online-Werbung. Der eigentliche Zweck: Wir sollen möglichst viele Dinge kaufen.

Man sieht sie überall (und in ihnen sich selbst): die Passagiere am Flughafen, zusammengesunken in Geräte starrend, zu müde, um sich dagegen wehren zu können.

Der Griff zum Smartphone ist die Universalhandlung dieser Tage, so automatisiert, dass wir sie oft nicht bemerken. Dieser fragmentierte Rhythmus, durch die Welt zu stolpern, ist der Erfahrung des Reisens besonders abträglich. Die Zwischenräume, in denen wir über das Gesehene und Erlebte reflektieren, verschwinden. Was war das eigentlich genau, was ich beobachtet habe? Was hat es bedeutet, auch für mich persönlich? Was nehme ich daraus mit? Welche Einsicht habe ich gewonnen? Wer sich einen Reim auf die Welt machen will, braucht einen inneren Raum, der nicht permanent mit Informations-Gerümpel vollgestellt wird. Hat sich jemals ein Reisender an die Stunden erinnert, die er mit dem Handy verbracht hat?

Ich habe mein Smartphone auf Reisen immer dabei. Die Kunst liegt darin, die nützlichen Informationen in möglichst kurzer Zeit aufzunehmen und dann die Finger vom Gerät zu lassen. Muss ich ein Busticket kaufen oder einen Treffpunkt finden? Oder brauche ich Social Media, um meine Einsamkeit zu lindern? Auf Reisen sind die Leute kontaktfreudig, da lässt sich auch ein wortkarger Netzwerkadministrator zu einem zwanglosen Plausch hinreißen.

Die höchste Kunst ist so simpel wie schwierig: immer nur eine Sache tun. Ohne Ablenkung. Wenn das gelingt, sind wir wirklich präsent. Im Übrigen klappt es dann sogar mit dem wichtigsten Urlaubsmotiv – der Erholung.

Hat sich jemals ein Reisender an die Stunden erinnert, die er mit dem Handy verbracht hat?

"Vom Glück zu reisen" erschien im März 2019 im Reisedepeschen Verlag.

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