Wie ist es eigentlich, als Kapitän täglich durch Berlin zu fahren?
In unserer Reihe „Wie ist es eigentlich…?“ stellen wir die Tourismusbranche aus einer anderen Perspektive vor. Wir schauen hinter die Kulissen und begleiten Menschen bei ihrer Arbeit. Wie sieht der Alltag von Fernbusfahrern aus, wie hält sich ein Liftwart warm und was machen Security-Kontrolleure am Flughafen eigentlich den ganzen Tag?
Thomas streckt die rechte Hand in den Himmel. Während ein Vogel in schnellen Bewegungen die Körner aus seiner Hand pickt, hält er in der linken 20 Tonnen und wirkt zu meinem Erstaunen absolut tiefenentspannt. Wir stehen auf der Suncat 46 in der Mühlendammschleuse zwischen Regierungsviertel und Oberbaumbrücke und warten darauf, weiter fahren zu können. Thomas fährt die Suncat 46 Tag für Tag durch die Berliner Innenstadt – und liebt es.
Thomas ist Kapitän bei Solarwaterworld, einem Unternehmen, das Touren über die Spree mit umweltfreundlichen Solar-Fahrgastschiffen anbietet. Seit zwei Jahren sitzt Thomas hier hinter Steuer, Monitor und Funkgerät, das ihn zu Kanal 10 durchstellt. Es ist der Funkkanal “Schiff-Schiff”, durch den auch an diesem Morgen alle paar Minuten Meldungen reinkommen, die Thomas bei seiner Tour beachten muss. Schiffe melden sich fürs Schleusen oder für bestimmte Brücken an, durch die man nur in eine Richtung durchfahren kann. Welche das genau sind, das steht auf keinem Verkehrszeichen und keiner Karte. Das muss man einfach wissen, oder eben mitdenken, wo es gefährlich werden könnte.
Täglich grüßt das Kanzleramt
Gefährlich ist kein Stichwort, das den Kapitän abschreckt. Im Gegenteil: „Je schwerer es ist, desto mehr Spaß macht es mir. Wenn es in der Innenstadt ganz voll ist und da ganz viele Schiffe sind, macht es mir am meisten Spaß“, erzählt er und berichtet dann, dass der Müggelsee im Sommer sogar schwieriger zu befahren ist als die Innenstadt. Denn während sich die größeren Schiffe in der Innenstadt gegenseitig über Funk verständigen, haben die meisten Sportboote, die häufig auf dem Müggelsee unterwegs sind, keine Möglichkeit dazu. Selbst für Thomas ist es dann eine Herausforderung, ihr Verhalten einzuschätzen.
Mit seinen rund 30 Gästen an Bord ist der Schiffsführer im Vergleich fast einsam: Seine Kolleg*innen fahren bis zu zehnmal so viele Tourist*innen an der Museumsinsel, dem Kanzleramt und dem Hauptbahnhof vorbei. Immer, wenn er mit der Suncat 46 an ihnen vorbeikommt, grüßt er Richtung Führer*innenhäuschen. Einige winken jedes Mal zurück, manche nur bei der ersten Begegnung. Denn wenn man „die Linie fährt“, wie Thomas es beschreibt, sieht man sich durchaus sechs-, siebenmal am Tag. „Persönlich kenne ich nicht alle, aber die Meisten zumindest aus dem Funk. Man wünscht sich dort auch einen schönen Feierabend oder einen guten Morgen.”
Ein Kapitän sitzt nicht nur hinter dem Steuer
Täglich startet die erste von Solarwaterworld angebotene Tour um zehn Uhr in der Nähe der Oberbaumbrücke; Thomas muss spätestens acht Uhr morgens auf dem Schiff sein. Er ist nicht nur dafür verantwortlich, die Suncat 46 sicher durch die Spree zu lotsen, sondern muss sie vor der Tour auch putzen und kontrollieren, ob Funk, Maschinen und Ruderanlage noch funktionieren. „Leute nehmen nicht an, dass zu dem Job auch viel Vorbereitung und Nachbereitung gehört. Den Aufwand, der hinter einem sauberen Schiff steht, sehen viele nicht“, sagt Thomas.
Wenn die Passagier*innen an Bord gehen, ist es bei Solarwaterworld der Kapitän, der hier Tickets kontrolliert und Audioguides verteilt. Dann setzt er sich hinters Steuer und fährt zuerst an der unbemalten Rückseite der East Side Gallery durch die Schillingbrücke und am Holzmarkt25 vorbei. Dann kommt der Fernsehturm in den Blick und Thomas macht am Historischen Hafen Halt, um noch mehr Gäste einzusammeln. Tag für Tag kommt hier jemand zu spät, berichtet er. Bei einer Linienfahrt wartet er dann noch fünf Minuten, bevor er weiter zur Schleuse fährt.
Das Nadelöhr an der Spree
„Moin, Moin, wie ist denn deine Zeit so? Soll ich hinter dir reinfahren?“, spricht der Kapitän ins Funkgerät und meint damit ein Schiff namens “Ernst Reuter”, das er auf seinem Monitor in der Nähe ausmachen kann. Die meisten anderen Schiffe haben nicht wie Thomas zweieinhalb Stunden Zeit für eine Rundfahrt und fahren viel schneller. Besonders im Bereich der Schleuse gibt es oft Stau, wenn gegen zehn Uhr morgens alle Fahrgastschiffe aus den Anlegern kommen und in Richtung Innenstadt durch das Nadelöhr müssen. Einfahren und Festmachen in der Schleuse dauert etwa zehn Minuten, dann muss die Kammer das Wasser einspeisen oder ausführen, was nochmal so lang dauert. Taktet man hier nicht richtig, verliert man 20 Minuten beim Warten auf den nächsten Schleusengang. Der will geübt sein: Als Thomas zum ersten Mal mit dem Boot unterwegs war, setzte er sich ein paar Tage vorher zwölf Stunden an die Schleuse und beobachtete.
Was den Kapitän so richtig an den Gästen nervt
Thomas spricht sich mit seinen Kolleg*innen ab, um möglichst gemeinsam zu schleusen und so Wasser und Zeit zu sparen. Dann geht es weiter in Richtung Nikolaiviertel und James-Simon-Park. Als ich wissen möchte, welche Frage er von Tourist*innen einfach nicht mehr hören kann, weiß Thomas sofort eine Antwort: „Wo ist der beste Platz?“ Und, wo ist er denn? „Überall“, sagt Thomas mit einem Grinsen im Gesicht., „Außerdem: Ich weiß es nicht, ich sitze ja immer hier.”
Den Schiffsführer überrascht auch, wie Leute das Schiff hinterlassen: "Was mich besonders nervt, ist, wenn Leute ihre Zigaretten im Wasser entsorgen. Dann gehe ich auch immer hin und sage, dass wir einen Aschenbecher haben. Ich finde furchtbar, was die Spree da alles schlucken muss. Und die Musik kann nie laut genug sein. Vor allem auf der Spree hört man das kilometerweit, da muss man auch Rücksicht nehmen. Wir sind hier ja auf dem Wasser, das ist Natur.“
Viermal täglich über die Spree, um im Urlaub weiter zu fahren
Mittlerweile ist das Schiff mitten im Zentrum von Berlin angelangt. Obwohl ich Berlin gut kenne, ist die Aussicht an diesem Sommertag absolut beeindruckend. Thomas lenkt das Schiff am Berliner Dom und Tränenpalast vorbei durchs Regierungsviertel, wo ich bei dem Blick auf das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und den Reichstag selbst bei dem gemächlichen Tempo gar nicht schnell genug schauen kann. Nach dem Bundeskanzleramt dreht der Schiffsführer beim Moabiter Werder um – und fährt die Runde wieder zurück. An einem normalen Tag macht er das dreimal, Donnerstag bis Sonntag gibt es zusätzlich noch eine Sunset-Runde. „Im Sommer habe ich so gut wie keine Freizeit, weil ich für den Winter vorbereiten muss. Wir sind für das ganze Jahr angestellt und fahren im Winter kaum.“
Aber: Auch im Winter verbringt Thomas seine Tage hinterm Steuerrad. Wie in früheren Zeiten, als er noch in der IT gearbeitet hat und in der Freizeit als Bootsfahrlehrer durch Deutschland gefahren ist, steuert er auch in seinem Urlaub Schiffe. Meistens sind es deutlich größere Modelle als jenes, was er heute durch die Spree manövriert. Am liebsten, so erzählt er, fährt er dann frühmorgens dem Sonnenaufgang entgegen. „Es entschleunigt. Egal, wie stressig es ist, man kann halt nicht schneller als zehn, zwanzig km/h fahren“, sagt Thomas zufrieden. Sein im Sommer unglaublich zeitintensiver Job lässt ihn trotzdem ausgeglichen wirken. Vielleicht, weil er auf die Frage, was sein Lieblingsort in Berlin ist, antwortet:„Alles, was mit Wasser zu tun hat, ist irgendwie schön.“.