Venedig und der Tourismus – Wie die Stadt langsam zum Disneyland wird
Ich war vor Kurzem in Venedig, und die Entscheidung, die Stadt zu besuchen, fiel mir nicht leicht, auch wenn ich den Besuch an eine Pressereise, die mich ins Umland führte, ranhing. Ich wollte die italienische Kanalstadt schon immer mal sehen und herausfinden, was es mit dieser Gondelromantik auf sich hat, von der alle schwärmen und die in jedem Prospekt für unvergessliche Hochzeitsanträge steht.
Andererseits, und genau deshalb haderte ich mit mir, ist ein Besuch Venedigs mittlerweile verpönt, denn wie kaum eine andere Stadt steht Venedig für all das, was schief läuft beim Tourismus. Gerade mal 59.000 Menschen wohnen in dem historischen Zentrum. Und diese 59.000 Einwohner treffen auf täglich 100.000 Tagestouristen und jährlich 30 Millionen Besucher, die mit Booten, Bussen, Zügen und Kreuzfahrtschiffen hier abgesetzt werden. 30 Millionen! Nur mal so zum Vergleich: In Berlin kommen auf 4 Millionen Einwohner jährlich 13,5 Millionen Touristen. Und Berlin ist 171 Mal so groß wie Venedig!
Venedig und der Kollaps
Wer schonmal in Venedig war, weiß wie klein und eng die Gassen und Brücken sind, die die 118 kleinen Inseln miteinander verbinden. Ich kann mir kaum vorstellen, wie sich die Touristen hier im Sommer aufeinander stapeln. 2018 wurde im Frühjahr ein Notfallplan ausgerufen für den Fall des Kollapses, Touristen sollten umgeleitet werden, der "Eintritt" in die Stadt durch Gebühren reglementiert werden. Doch verstopfte Straßen sind nur das wortwörtliche oberflächliche Problem. Denn das viel schlimmere Problem ist, dass Venedigs Substanz bröckelt. Da der Wasserspiegel steigt, ist in den meisten Gebäuden das unterste Geschoss unbewohnbar. Der Wellenschlag der vielen Motorboote und Kreuzfahrtschiffe frisst an den Fundamenten der gebrechlichen Gebäude, die vor Jahrhunderten errichtet wurden. Zudem werden die Fundamente, die nur auf Holzpfählen stehen, durch das Ausbaggern von Fahrrinnen für die Kreuzfahrtschiffe unterspült.
Aber ich verstehe nach meinem dreitägigen Besuch, welche Anziehung Venedig ausübt. Es ist einfach irrsinnig, was hier erschaffen wurde. Die Republik Venedig, mit Venedig als Hauptstadt, war zehn Jahrhunderte lang ein Kolonialreich, das von Oberitalien bis Kreta herrschte, und bis ins 16. Jahrhundert eine der größten Handelsstädte zwischen Westeuropa und dem östlichen Mittelmeer. Venedig verfügte über einen immensen Reichtum, der sich in den prunkvollen Palästen und Palazzos widerspiegelt, die es in so geballter Form wohl kein zweites Mal auf der Erde gibt. Allein der Dogenpalast am Markusplatz, eines der bekanntesten Gebäude in Venedig, ist 1200 Jahre alt. Dazu kommen zahlreiche Kirchen und weniger bekannte Gebäude abseits der großen Marktplätze, wie die Scuola Grande di San Rocco, ein palastartiges Zunftgebäude, das unfassbar reich und detailliert verziert ist. Oder die Biennale, eines der größten Kunstfestivals der Welt, das man, wenn man schon in Venedig zu Besuch ist, eigentlich auch nicht verpassen darf.
Venedig ist kein Disneyland für eure #couplegoals
Für all das könnte man sich interessieren, wenn man die Stadt besucht, denn Venedigs Geschichte und die hinter den strahlenden Palazzos ist extrem spannend. Aber alles, was die Tages- und Kreuzfahrttouristen machen, ist sich eine dämliche venezianische Karnevalsmake zu kaufen, sich in die nächstbeste Gondel zu setzen, eine Runde durch die Stadt zu schippern und dabei ein möglichst romantisches Foto zu machen. Hashtag #bestdayever, Hashtag #couplegoals. Vielleicht noch der Kommentar, dass Venedig die schööööönste Stadt der Welt ist, und Tschüss!
Ich frage mich, wie man sowas ernsthaft behaupten kann. Wie man drei oder 24 Stunden in einer Stadt verbringen kann, ohne ansatzweise zu versuchen, die Stadt kennenzulernen. Man kann Venedig schnell als Freilichtmuseum abstempeln, weil hier alles so schön und alt ist, aber Venedig (und jede andere Stadt) ist kein Disneyland, kein Themenpark, hier leben echte Menschen, die Geschichte ist echt, keine ausgedachte, um andere zu bespaßen.
Venedig (und jede andere Stadt) ist kein Disneyland, kein Themenpark, hier leben echte Menschen, die Geschichte ist echt, keine ausgedachte, um andere zu bespaßen.
Venedig hat ein hausgemachtes Problem
Nun könnte man argumentieren, dass Venedigs Problem ein hausgemachtes sei. Venedig lebt vom Tourismus und ist nach jahrelangem Werben um Investoren und Hoteliers auf die Touristen angewiesen. Vermutlich werden deshalb so offensichtliche wie simple Lösung nicht einfach umgesetzt: Der Strom an Touristen könnte durch eine Reduktion der Transportmöglichkeiten in die Stadt und durch höhere Tourismusabgaben (die wiederum in die Instandsetzung der Gebäude investiert werden können) reglementiert werden. Zudem argumentieren Kritiker seit Jahren, dass die Kreuzfahrtschiffe zu dicht an der Altstadt vorbeifahren – erst am 2. Juni 2019 rammte ein Kreuzfahrtschiff ein kleines Touristenboot direkt in der Lagune. Auf meine Frage, warum die Stadt nicht einfach die Stellplatzgebühren für die Kreuzfahrtschiffe erhöht, erzählte mir eine Italien-Kennerin erst kürzlich, dass die Stadt die Stellplätze an private Unternehmen verkauft hat, die natürlich Geld verdienen wollen und gar nicht daran denken, die Kreuzfahrtunternehmen zu verprellen.
Warum zeigen wir unseren Urlaubsorten nicht mehr Respekt?
Das Touristen-Problem ist freilich keins, das nur Venedig hat. Seit Reisen so günstig geworden ist und wir auf Social Media die Möglichkeit bekommen haben, unserem Leben einen Zuckerwattefilter zu geben, zählt nicht, was wir erlebt haben und was wir aus dem Erlebten mit nach Hause nehmen, sondern dass es überhaupt passiert ist. Picture or it didn’t happen. Vielleicht bin ich ja altmodisch, weil ich einen Ort wirklich erleben will, weil ich jede Ecke gesehen haben muss, um mit Gewissheit an eine Hauswand schreiben zu können „Ich war hier“. Aber wenn wir schon das Privileg haben, die Welt sehen zu können, dann sollten wir ihr auch Respekt zeigen.
Für Venedig gibt es zahlreiche Lösungen: sich für die Menschen und die Stadt wirklich interessieren; auf Kreuzfahrten verzichten; nicht nur als Tagestourist vorbei kommen, sondern länger bleiben; und vor allem andere auf die Probleme aufmerksam zu machen und sie dafür zu sensibilisieren.