Für Urlaub ist es nie zu spät – Ein Hoch auf die Nebensaison
Der Sommer 2020 war, wie eigentlich alle Sommer, zu kurz. Für mich allerdings ausreichend lange, um eine ernsthafte Italo-Schlager Phase zu entwickeln. Falls ihr euch fragt, Italo-Schlager klingen zum Beispiel so: "Es war einmal auf Capri vor nunmehr 30 Jahren. Da war die Welt ein Paradies und wir sind hingefahren.“ Irgendwie retro. In meiner Vorstellung passen diese Songs hervorragend zu dem Moment, in dem das Autofenster für den ersten warmen Wind hinter dem Brenner runtergekurbelt wird. Denn Italo-Schlager klingen wie der warme Asphalt an Autobahnraststätten riecht: nach Urlaubsaufbruch oder -abbruch, je nachdem in welche Richtung man fährt. Dann im Herbst stellt sich plötzlich die kollektive Sehnsucht nach dem Gestern ein, als es noch Vino Rosso vor rotweinrotem Himmel am Strand gab.
Nebensaison: Die schönste Reisezeit beginnt
Im Herbst, wenn Menschen aus Sommerurlauben zurückkommen und sich die eigene Stadt nicht mehr anfühlt wie ein überdimensionales Freibad, bringen sie das von ihren Reisen mit: Das laue Feriengefühl, das sich ein paar Monate lang immer irgendwo zwischen Straßenbahn und Kiosk eingestellt hat, löst sich abrupt auf in eine Art retrospektiver Sommer-FOMO (Fear of Missing out, für die Non-Millenials unter euch). Die Angst, im Sommer etwas oder besser gesagt den Sommer verpasst zu haben. Und immer wenn ich im Sommer nicht weggefahren bin, weil es zuhause dann doch viel zu schön war, stellt sie sich bei mir früher oder später ein. Wunderbar hilft dagegen eines: in den Urlaub fahren, nämlich da hin, wo alle gerade waren. Für den Süden Europas beginnt nach dem Sommer zwar die Nebensaison, für mich aber die schönste Reisezeit.
Das Schönste an der Nebensaison: Außer mir sind dann meistens nur ein paar Einheimische unterwegs. Man hat also gute Chancen, etwas vom echten Leben der Locals an den Urlaubsorten mitzubekommen.
Im Oktober, November und dann auch mal im Februar war ich in den letzten Jahren unterwegs. Also in Monaten, in denen es in Barcelona, in Lissabon, auf Mallorca und in der Toskana durchschnittlich höchstens 19 Grad hat und auch mal regnet. In den letzten Jahren saß ich tatsächlich häufiger mit Schal und Mütze am Strand, als im Badeanzug. Aber 19 Grad und mehr in der Sonne, fühlen sich um einiges wärmer an, wenn man gerade dem deutschen Winter entflohen ist. Ich habe also die Theorie, dass ich den "Sommer"urlaub im Winter mehr zu schätzen weiß, anstatt im Sommer in einen noch heißeren Sommer zu reisen.
Ich bin ja nicht die einzige, die in den kalten Jahreszeiten verreist. Zumeist gehen diese Reisen bei anderen Menschen allerdings an weit entferntere, noch wirklich warme Orte. Ich aber liebe die Nebensaison in Ländern, die ich locker mit dem Zug erreichen kann. Das Nebensaison-Konzept mag für viele den Sinn eines Strandurlaubes nicht erfüllen, aber ich sitze zwischen Oktober und Februar an beinahe menschenleeren Küsten, gucke auf das Meer und springe, wenn die Sonne aus den Wolken schaut, auch mal ins Wasser. Außer mir sind dann meistens nur ein paar Einheimische unterwegs und das ist mit das Schönste an der Nebensaison: Man hat gute Chancen, etwas vom echten Leben der Locals an den Urlaubsorten mitzubekommen. Die Menschen, im Sommer versteckt zwischen Touristenmassen, sind in der Nebensaison wieder zu sehen. Sind nicht länger mit ihren Straßen verschmolzen zu einem Postkartenmotiv.
Pragmatismus first: für weniger Geld länger Reisen
Entstanden ist meine Reisevorliebe allerdings mehr aus pragmatischen Gründen, denn aus ideologischer Suche nach etwas Echtem. Während meines Studiums hing die Gestaltung meiner freien Zeit von den Semesterferien ab und an der gähnenden Leere meines Kontos. Die studienfreie Zeit im Sommer ist auch in Deutschland schön, aber von Februar bis März bin ich lieber nach Südeuropa gereist. Heute ist der Ausgangspunkt zwar ein anderer, aber wenn ich die Wahl habe zwischen einer Woche Urlaub im August oder vier Wochen im November für denselben Preis – gibt es dann überhaupt noch Fragen? Wie das sein kann, vielleicht. Aber das ist schnell erklärt: Manche Hosts auf Airbnb bieten ihre Wohnungen zu günstigeren Preisen an, wenn man einen längeren Zeitraum, zum Beispiel vier Wochen, bucht. Dieses Jahr sind viele Unterkünfte (wohl bedingt durch Corona) zusätzlich reduziert, so dass ich für 480 Euro vier Wochen lang in einer Finca in Portugal wohnen könnte – was immerhin günstiger ist als viele WG-Zimmer.
Es ist nie zu spät sich in den Urlaub zu verabschieden, denn es ist eben wie Roy Bianco & Den Abbrunzati Boys sagen: 'Der Abschied hat immer Saison.'
Vor ein paar Tagen traf mich die Sommer-FOMO unvermutet zwischen zwei Italo-Schlager-Zeilen. „Das Leben, es war fantastisch. Doch nichts war seither noch so schön wie Capri '82". Das Jahr '82 hatte es lange vor mir gegeben, aber gleichermaßen schien der Sommer 2020 unwiederbringlich zu sein, in Sekunden an mir vorübergezogen. Ein unerträgliches Gefühl von verpassten Chancen auf verschütteten Rotwein und Knutschen am Strand machte sich breit. Das Ergebnis war das starke Bedürfnis in den nächsten Zug gen Mittelmeer zu steigen, um „Capri '82“ oder irgendeine Art von Sommer zurückzuholen. Womöglich ein vergebliches Unterfangen, glaubt man Roy Bianco & Den Abbrunzati Boys, in Wahrheit die einzige Italo-Schlager-Band, die ich höre und deren Songzeilen sich dementsprechend tief eingebrannt haben.
Andererseits gibt es alles, worüber die Jungs sonst so singen – Vino Rosso, Baci Baci, La Dolce Vita, Bella Ragazza und Bello Ragazzo –, auch noch 2020 in Italien und das nicht nur im Sommer, sondern auch dann noch, wenn all die Hauptsaison-Urlauber*innen nach Hause gefahren sind. Und so werde ich demnächst „Ciao, ciao Bella“ summend meine Sachen packen und mich in einen Zug setzen. Dann irgendwo am Strand aussteigen. Bei 19 Grad und grauem Himmel wird es trotzdem mehr Sommer sein als in Deutschland. Es ist nie zu spät sich in den Urlaub zu verabschieden, denn es ist eben wie Roy Bianco & Den Abbrunzati Boys sagen: „Der Abschied hat immer Saison.“